Neue Bücher von Robert Harris, Martin Becker/Tabea Soergel, Robert Zion und Barbara Neman
Robert Harris – Abgrund (Heyne)
Kannst du dir nicht ausdenken: Das alte Europa, wo sich Kaiser, Zar und englischer König mit Spitznamen anreden, weil sie sich schon als Kinder kloppten, taumelt auf den großen Krieg zu. Vom Schlafwandeln hat der Historiker Christopher Clark geschrieben. Und auch im neuen Roman von Robert Harris ist es eine betäubte Atmosphäre, in der alle Beteiligten das sich abzeichnende Grauen und das sinnlose Sterben ahnen und trotzdem weiterstolpern. Und doch ist es eine sehr zärtliche Geschichte, die der Meister der klug recherchierten Psychogramme erzählt. Wieder einmal hat sich Harris, der schon vom Staatsmann Cicero durch die Augen seines eigentlich viel sympathischeren Schreibers Tirlo berichtete („Im- perium“, „Titan“, „Dictator“), eine denkbar originelle Perspektive gewählt. Diesmal blickt er durchs Schlüsselloch und schaut einem zunehmend Verzweifelten über die Schulter. Im Zentrum steht der britische Premiereminister H.H. Asquith, der ein zärtlicher Zeitbeobachter und Liebesbriefschreiber war. Seine Geheimbotschaften schickte er allerdings nicht an seine Frau, sondern an Venetia Stanley, eine unverheiratete Aristokratin, die 35 Jahre jünger ist. Die Briefe gehen hin und her – mit hoch brisantem Inhalt, sogar mit militärischem Insiderwissen. Asquith macht die 27-Jährige zu seiner Vertrauten und zur Ratgeberin. Er will den Krieg unbedingt verhindern – und schafft es nicht. Klingt irre? War es auch! Harris hat sich die Briefe nicht ausgedacht. 560 sind erhalten – von Asquith abgeschickt. Nur Venetias Antworten, die der Premier verbrannte, imaginierte sich der Autor. Besonders irre aus heutiger Sicht: Damals lieferte die Royal Mail nicht nur in London noch mehrfach am Tag Briefe aus. Rupert Sommer
Martin Becker/Tabea Soergel – Die Schatten von Prag (Kanon)
Jaroslav Rudiš ist schon mal Fan, da kann eigentlich nichts mehr schiefgehen, wenn der aktuell wohl bekannteste zeitgenössische tschechische Schriftsteller das Werk lobt. Martin Becker und Tabea Soergel kennen Land und Leute, wurden gar mit dem Deutsch-tschechischen Journalistenpreis aus- gezeichnet. Nun legen sie ihren ersten historischen Prag-Krimi mit dem „berühmt-berüchtigten“ Reporter und Kafka-Freund Egon Erwin Kisch vor. Dieser möchte 1910 mit Hilfe der bürgerlichen Medizinstudentin Lenka Weißbach eine Mordserie vor dem Hintergrund einer nationalistischen Verschwörung aufdecken, da anscheinend seitens der Polizei wenig Interesse an dem Fall besteht. Kisch hat wirklich gelebt, ansonsten ist viel erfunden in diesem lesenswerten Krimi, der gut recherchiert das alte Prag mit seinen Sehenswürdigkeiten, engen Gassen, der multikulturellen Bevölkerung, den Spe- lunken und gesellschaftlichen Schranken zum Leben erweckt. Mysteriöse Frauen, die Frauen lieben, trunkene Männer, die Männer hassen und über der Stadt der Halleysche Komet, der von einem jähen Ende kündet. Historische Fakten ziehen sich wie die Moldau durch dieses Buch; „das ist Babylon Praha!“, verkündet Rudiš auf dem Klappentext – warum nicht. Schönster Satz: „Wir haben alle ein Loch in uns … und das füllen wir entweder mit Geld, Schnaps oder Liebe“. Rainer Germann
Robert Moin – Auf dem Pfad der Verlorenen – Der Noir Western 1943-1972 (BoD)
Guilty pleasure oder nicht: Ja, ich bin Western-Fan. Ich war auf den Spuren von John Ford und John Wayne (den ich als Schauspieler schätze, nicht aber als reaktionären Trumpisten, der er heute mit großer Wahrscheinlichkeit wäre) im Monument Valley unterwegs. Und schon wahr, eher sind es die Klassiker, die mich faszinieren und dies von Kindesbeinen an. Eines meiner ersten Bücher überhaupt war demzufolge auch Joe Hembus’ Western-Lexikon, in dem ich bis heute alle Western anstreiche, die ich gesehen habe, darunter etwa „Ritt zum Ox-Bow“, „Bravados“, „Cheyenne“ oder das Ford/Wayne-Meisterwerk „Der schwarze Falke“, vielen auch unter seinem Originaltitel „The Searchers“ bekannt. Und genau von denen schreibt natürlich auch Robert Zion in seiner kenntnisreichen „Werkausgabe 4“ mit dem düster-verwegenen Titel „Auf dem Pfad der Verlorenen“. Der Autor hat es sich hierbei zur Aufgabe gemacht den „Noir Western“ aus der Zeit 1943 bis 1971 enauer unter die Lupe zu nehmen, erklärt überhaupt die Begrifflichkeit „Noir“ (und warum sie auch für Westernfilme von Bedeutung ist) und erweist sich so als Schatzsucher und Bewahrer etlicher Meisterwerke, die es unbedingt verdient haben, auch weiterhin Beachtung zu finden. Und, ganz oldschool, wäre hier natürlich eine DVD-Kollektion unbedingt wünschenswert. Dazu passend: am 29.12. gibt’s auf 3sat wieder rund um die Uhr den „Wilde Western“-Thementag. Gerald Huber
Barbara Zeman – Beteigeuze (dtv)
Ich mag Ich-Erzähler*innen. Besonders: „Die erste Person Singular als Mittel etwas durch den Text zu zeigen, was der, der im Text ‚Ich‘ sagt, selbst nicht sieht.“ (J.P. Reemtsma) ist mir nahezu der liebste Kniff, den’s in der narrativen Prosa so gibt. Und von Bernhard über Qualtinger zu Haas scheint ebenjener in der österreichischen Literatur besonders verbreitet. Darf man den wunderbaren neuen Roman von Barbara Zeman da jetzt einfach auch einsortieren? Teilweise. Es ist eine große, teils diebische Freude ihre Theresa Neges, die kurz nachdem wir sie kennenlernen, beschließt ihre Psychopharmaka abzusetzen, zu begleiten. Was wie ein Hauptplot-Punkt klingt, ist dabei nur ein Ausschnitt des Theresa-Panoramas, das für uns aufgefächert wird. Theresa ist bspw. auch Taucherin, Birnenerschleicherin und Astronomie- Aficionada. Mal still im Umgang, mal unterschwellig rabiat. Ganz nebenbei führt sie uns -teilweise selbst- entlarvend- durch Erdzeitalter, Galaxien, Familiengeschichte, Paardynamiken und Alltägliches. So durchdringen sich mal komisch, mal melancholisch kleine (die zwischen zwei Menschen) und größtmögliche (Sterntode) Geschichte(n). Und so, wie sie in unsere Umlaufbahn driftet, geben wir Lesenden die Theresa nach 300seitigem Umtanzen des gemeinsamen Baryzentrums wieder her: Scheinbar nebenbei und doch von literarischer Wucht beseelt. Franz Furtner
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