Ortsgespräch: Martina Taubenberger, Kuratorin Out of the Box Festival

„Höchstes Glück für mich, neue Musik in die Welt zu bringen“

Das von MARTINA TAUBENBERGER kuratierte Festival Out of the Box bringt ab 11. Januar ganz Bayern und das Werksviertel zusammen – auf Klangexpeditionen.

Frau Taubenberger, Sie und Ihr Team denken für das mittlerweile schon traditionsreiche Festival immer wieder abseits des Gewohnten und loten kulturelle Räume aus. Wie knifflig ist es denn, immer neue Ideen zu entwickeln und sich dabei auch ein wenig zu überbieten?

Das empfinde ich nicht als knifflig. Nach jedem Festival oder außergewöhnlichen Projekt kommt die Frage: „Wie willst du denn das jetzt noch überbieten?“ Darum ging es für mich aber tatsächlich nie. Die Ideen ergeben sich ganz natürlich aus dem, was ich beobachte, aus Gesprächen, aus Fundstücken. Auch daraus, dass ich alles immer zwingend aus dem Kontext heraus – aus den Räumen, den historischen Zusammenhängen, dem Inhalt – entwickle. Was aus diesen Ideen dann außergewöhnliche Konzepte werden lässt, ist die Tatsache, dass ich mir selber keinen Gedanken und keine verrückte Idee verbiete. Dass das dann häufig etwas ist, wo ich mich selber irgendwann am Kopf kratze, weil es schon wieder sämtliche Grenzen sprengt – das ist eher eine Begleiterscheinung.

Wie entstand eigentlich der neue Festival-Grundgedanke?

Mit dem Spannungsfeld rund um die Begriffe „kulturelles Erbe“, „Geschichte“, „Gedächtnis“ und „Erinnerung“ beschäftige ich mich schon seit vielen Jahren. Auch mit dem Zusammenhang von Erinnerung und Identität. Das Bedürfnis, dieses Thema in den Mittelpunkt des Festivals Out of the Box zu stellen, hatte ich, weil darüber in Zusammenhang mit Kulturbauten meines Erachtens viel zu wenig gesprochen wird.

Wie meinen Sie das?

Wir diskutieren jahrelang über den Standort eines neuen Konzerthauses, über die Architektur, natürlich am liebsten über die Kosten. Auch über so etwas wie die digitale Ausstattung. Und immer wieder fällt in der Diskussion mal kurz der Begriff des „kulturellen Erbes“, das es – besonders gerne in Bayern – zu bewahren gilt. Aber nie diskutiert mal jemand darüber, auf welches kulturelle Erbe sich so ein Haus denn beziehen will oder soll. Und was es denn wirklich heißt, dass es ein „Konzerthaus für alle“ ist. Für mich reicht es jedenfalls nicht, Konzerte in die Peripherie zu streamen, um diesen Anspruch einzulösen. Deshalb beginnt das Festival auch wieder auf dem Grundstück des Konzerthauses im Werksviertel. Weil hier alles seinen Anfang genommen hat.

Dr. Martina Taubenberger unterwegs in Haidhausen. (c)Achim Frank Schmidt

Sie kreisen um Fragen von Identität und wie eine kulturelle DNA aussehen könnte. Was gehört für Sie denn unbedingt dazu?

Für mich ist kulturelles Erbe nicht linear. Und es hat auch nichts mit der Frage zu tun, wo ich zufällig geboren bin oder welche Nationalität oder Ethnie ich habe. Vielmehr sehe ich es als dreidimensionalen Raum, in dem wir uns verorten. Es ist mehr eine Frage der Perspektive, was mein persönliches kulturelles Erbe formt. Welche kulturellen Ausdrucksformen sind mir in meiner Kindheit oder Jugend begegnet? Was war mir wichtig? Was habe ich gelesen, gehört, gesehen? Und was habe ich als zu mir gehörig identifiziert? Das kann sich im Laufe des Lebens immer wieder ändern, weil man sich weiterentwickelt, Neues entdeckt. Identität ist immer nur ein Entwurf. Und genauso individuell ist die Frage, womit sich dieser Identitätsentwurf kulturell begründet.

Manchmal müssen Erbinformationen ja auch erst freigelegt und wiederentdeckt werden: Wie aktiviert man Kultur-Gene?

Das ist eine sehr schöne Frage. Ich fände es wünschenswert, dass sich die Menschen selbst in ihrer Individualität und Vielfalt wahrnehmen und ernst nehmen. Das hat nichts damit zu tun, eine kollektive Identität anzunehmen, um sich zugehörig fühlen zu können. Denn das schafft nur Polarisierung und eine neue Grenzziehung. Wir reden dauernd von Vielfalt. Aber was heißt das denn wirklich?

Ihre Antwort?

Für mich heißt es, sich selbst anzunehmen als widersprüchlich, manchmal auch zerrissen, hin- und hergerissen, wandelbar. Das Sich-Wundern und Staunen, das Irritiertsein – das ist der Ausgangspunkt für Neugierde. Wenn mir etwas begegnet, und ich stelle fest: Das kann ich nicht als zu mir gehörig akzeptieren – dann bringt mich das doch erst in die Auseinandersetzung damit: Was gehört denn überhaupt zu mir? Und warum? Und dann komme ich vielleicht zu der unfassbar aufregenden Erkenntnis, dass sich das ändern kann. Dass ich etwas Neues entdecken kann. Dass aus etwas Fremdem etwas werden kann, mit dem ich in Resonanz gehe.

Sie weiten den Blick von München aus diesmal: Wie kam die Idee zustande, weitere Städte und Spielorte einzubeziehen?

Das entstand konzeptionell tatsächlich auch aus der Diskussion um das Konzerthaus im Werksviertel. Mir hat da mal jemand einen Flyer in die Hand gedrückt, da stand groß drauf: „Ein Konzerthaus für ganz Bayern“. Ich habe aber nirgends einen Hinweis gefunden, wie sich das konzeptionell einlösen soll. Daraus entstand die Überlegung, das einfach mal auszuprobieren. Ein Festival zu machen, das zwar in München, in der Landeshauptstadt, verortet ist, das aber versucht, in Austausch mit anderen Orten zu gehen. Es geht dabei um viel mehr als nur darum, Konzerte in unterschiedlichen Spielstätten zu veranstalten. Jeder Ort hat eine besondere Bedeutung, und schon bei der Suche nach den Orten haben diese das Programm beeinflusst – durch ihre Geschichte, Architektur oder das akustische Umfeld. Wir bringen nicht etwas von München ins Land. Wir bringen vielmehr etwas „von außen“ nach München.

Immer auf Spurensuche nach neuen Klängen (c) Achim Frank Schmidt

Schon für die Klangerforschungen rund um den von Alain Roche gespielten hängenden Flügel ließen Sie ja auch an ungewöhnlichen Orten Audiomaterial sammeln. Was macht solche Spurensuchen so spannend?

Ich habe bei dem Projekt „When The Sun Stands Still“ gemerkt, wie unglaublich spannend das ist. Da haben wir ja auch intensiv nach den richtigen Orten gesucht. Dabei sind teilweise sehr schöne Partnerschaften entstanden, denn man arbeitet ja vor Ort immer mit Institutionen zusammen. In der Vorbereitung zu „The Resonance of Time“ bin ich mit Emmanuel Witzthum, meinem künstlerischen Co-Direktor, zu unzähligen Orten gefahren. Wir haben Gespräche geführt, diskutiert, Orte wieder verworfen. Es gab da schon auch Widerstände. Zu kurzfristig, zu komplex, zu was-auch-immer. Ich habe im Laufe meiner langjährigen Arbeit gelernt, dass es keinen Sinn hat, andere zu etwas zu überreden. Die Orte und Partner, mit denen wir jetzt das Festival realisieren, waren alle sofort begeistert, haben sofort verstanden, worum es geht, und gesagt: Da wollen wir dabei sein! Ohne Wenn und Aber. Alleine dieser Prozess – dieses Netzwerk zu knüpfen, Beziehungen herzustellen zwischen all den Menschen und Orten – das ist so eine Bereicherung. Ich hoffe, dass sich das vermittelt, dass man diese Schwingung spüren kann während des Festivals.

Diesmal haben Sie auch Kompositionen in Auftrag gegeben – warum?

Ich persönlich habe schon sehr oft Kompositionsaufträge vergeben, zuletzt beim Festival 2022, als wir auch drei Eigenproduktionen gemacht haben. Diesmal sind es sogar insgesamt vier Kompositionsaufträge: an Emmanuel Witzthum, der zwei Stücke schreibt, an Golfam Khayam und Gregor Hübner. Und die Wiederaufnahme von zwei Kompositionsaufträgen, die ich im Jahr 2014 im Rahmen des Festivals „Tonspuren“ an Henning Sieverts vergeben hatte. Diese Kompositionen sind immer mit einem klaren konzeptionellen Ansatz verknüpft, den ich vorgebe. Es ist das höchste Glück der Erde für mich, aktiv daran beteiligt zu sein, neue Musik in die Welt zu bringen. Ein Kunstwerk, das es ohne diesen Auftrag, ohne mein Projekt nie gegeben hätte. Und das hoffentlich für manche im Publikum und auf der Bühne eine besondere Bedeutung bekommt. Bei dem Gedanken bekomme ich jedes Mal Gänsehaut.

Wie schwer war es, die kooperierenden Künstler dafür zu begeistern und auch bei ihnen die titelgebende „Resonance of Time“ spürbar zu machen?

Ich war kurz versucht zu sagen, das sei gar nicht schwierig gewesen. Dann fiel mir aber ein, dass es auch hier viel mehr Gespräche gab und dass nicht aus jedem Gespräch eine Zusammenarbeit wurde. Die Künstler:innen müssen sich einlassen wollen oder können. Das ist für jeden und jede Beteiligte auch ein Risiko. Niemand kommt hier einfach mit einem fertigen, erprobten Programm. Über die Jahre habe ich ein Netzwerk an Ensembles und Künstler:innen aufgebaut, denen ich vertraue und die mir vertrauen und die immer wieder mit mir arbeiten, auch wenn sie nicht so recht wissen, was da eigentlich passieren wird. Vertrauen ist das Allerwichtigste bei meinen Projekten. Ohne geht es nicht. Deshalb ist für mich auch die Zusammenarbeit mit meinem Co-Direktor Emmanuel Witzthum so bereichernd. Wir arbeiten seit zwei Jahren gemeinsam an dem Konzept. Das Narrativ hat sich so in einem kontinuierlichen Dialog zwischen uns beiden entwickelt. Unsere Begeisterung hat sich dann schnell auf alle anderen übertragen.

Wie viel dürfen Sie über die Stücke verraten: Auf welche Bandbreite an Stilen, Besetzungen, Aufführungsarten darf man sich freuen?

Da ist moderner Big-Band-Sound mit dem Munich Composers Collective dabei, ein Blechbläser-Quartett, das Kammerorchester O/Modernt und das Vokalensemble Trondheim Voices, außerdem Solist:innen wie Jelena Kuljic, Sissel Vera Pettersen, Gregor Hübner und Henning Sieverts. Es gibt Spoken Word mit der Dichterin Christine Yohannes, Performance und Tanz mit Ceren Orans Moving Borders, Installationen im öffentlichen Raum von Plastique Fantastique und eine immersive Klanginstallation von Ben Miller. Und alles mischt sich immer wieder neu. Keine zwei Programme sind identisch. Stilistisch ist es nicht festgelegt – Jazz, improvisierte Musik, persische Einflüsse, zeitgenössische Musik, Kirchenmusik … Das Genre interessiert mich bekanntlich ja nicht.

Sie lassen Künstler auch für Wohnzimmerkonzerte auftreten. Wie muss man sich das vorstellen?

Darauf bin ich auch sehr gespannt. Privatpersonen können sich als Gastgeber:innen für ein Wohnzimmerkonzert bei uns bewerben. Wir kommen dann mit ein oder zwei Musiker:innen abends vorbei. Die Gastgeber*innen laden Freunde und Bekannte ein und richten ein bisschen was zu essen und zu trinken her. Dann gibt es Musik und Gespräche. Ein kleines, privates und intimes Konzert, bei dem man die Künstler:innen wirklich persönlich kennenlernen kann. Ich hoffe, dass wir viele Anfragen und Bewerbungen bekommen.

Die interaktive Installation soll während des Festivals wachsen: Was ist da geplant?

Die immersive 3D-Sound-Installation „The Reservoir of Sounds“ ist so etwas wie das Herzstück des Festivals. Oder auch das kollektive Gedächtnis des gesamten Projekts. Von 16. bis 30. Januar kann man fast täglich in der whiteBOX im Werksviertel erleben, wie der Klangkosmos von „The Resonance of Time“ kontinuierlich wächst.

Wie muss man sich das konkret vorstellen?

Der Klangkünstler Ben Miller schichtet hier Tag für Tag neu die Klänge übereinander, die zeitgleich überall in Bayern in den Konzerten entstehen. Hier sind auch die Aufnahmen eingebunden, die wir im Vorfeld in mehreren Workshops mit dem Titel „Body of Memories“ nach der Konzeption der Künstlerin Ruth Hof aufgezeichnet haben. Da sprechen die Teilnehmenden über ihre persönlichen Erinnerungen und Assoziationen zu Klängen, Geräuschen, Musik; sie singen Wiegenlieder auf Band oder summen eine Melodie, die sie mit einem geliebten Menschen verbinden. All diese Fundstücke tauchen nun als Klänge im „Reservoir of Sounds“ wieder auf und verbinden sich mit der Musik, die für das Festival geschrieben und gespielt wird. Das immersive Audio-Setting mit über 30 einzeln anzusteuernden Lautsprechern macht daraus ein einmaliges Klangerlebnis. Für mich ist das ein Symbol für diesen dreidimensionalen Raum an kulturellen Einflüssen, in dem wir uns immer wieder neu positionieren dürfen.

Inwieweit ist das Werksviertel das Gravitationszentrum der Aktivitäten: Wie sehr laufen hier die Fäden zusammen?

Das Werksviertel ist natürlich Nukleus und Startpunkt von allem. Hier sind wir verortet mit dem Programm Werksviertel-Mitte Kunst. Der Startpunkt war das Konzerthaus. Während des Festivals kommen wir immer wieder hierher zurück, an unterschiedliche Orte im Werksviertel. Und die Fäden laufen buchstäblich in der Sound-Installation in der whiteBOX zusammen, in der wir auch das Festival am 2. Februar zum Abschluss bringen. Aber konzeptionell hat es sich durch die Reise durch ganz Bayern sehr stark geweitet. Für mich ist es ein bisschen so, als habe das Festival „Out Of The Box“ Flügel bekommen.

Wie wichtig ist es Ihnen, das Münchner Publikum auch für zeitgenössische Klangarbeiten zu öffnen?

Mir ist es grundsätzlich immer ein Anliegen, das Publikum einzuladen, sich auf etwas Neues einzulassen. Nicht nur in München, sondern auch in Regensburg, Passau, Lichtenberg, Burghausen, Kaufbeuren, Schongau, Berchtesgaden, Ebersberg und wo immer die Menschen herkommen werden. Ich wünsche mir, dass die Besuchenden neugierig sind, dass sie sich berühren lassen. Und dass sie ihre Eindrücke mit uns teilen. Jedes Konzert ist eine Begegnung, die im Idealfall irgendeine Spur hinterlässt.

Letzte Fragen: Auch wenn Sie sicher nicht parteiisch sein wollen, auf welche Events sind Sie selbst am stärksten gespannt?

Dass ich das nicht beantworten kann, habe ich gemerkt, als ich vor der Herausforderung stand, Programmbausteine streichen zu müssen. Wir hatten eine unfassbar schwierige finanzielle Ausgangssituation diesmal. Es werden ja gerade überall nur Mittel gestrichen.

Wem sagen Sie das!

Das Ergebnis war, dass ich nichts streichen konnte, weil alle Bausteine für mich wie kleine Zahnräder ineinandergreifen. Alles hat seinen Platz, seine Bedeutung. Jeder Ort hat eine Geschichte. Deshalb bin ich am meisten gespannt, wie sich alles fügen wird. Ich kann die Reise ja nur für alle planen. Was dann passieren wird, das kann ich nicht vorhersehen. Viele der Künstler:innen kennen sich bisher noch gar nicht. Aber ich weiß, es wird explodieren, wenn sie sich begegnen. Darauf freue ich mich. Und dann gibt es schon ein paar Orte, auf die ich aufgrund der räumlichen Situation besonders gespannt bin: das Konzert mit den Trondheim Voices im Heilstollen Berchtesgaden oder in der unterirdischen Ausgrabungsstätte der jüdischen Siedlung „Document Neupfarrplatz“ in Regensburg, den Konzertsaal im Haus Marteau in der Fränkischen Schweiz. Und natürlich auch auf Schongau, meine Heimatstadt. Denn das ist ja auch ein bisschen meine DNA.

Interview: Rupert Sommer

ZUR PERSON: Unkonventionelles Denken ist der Ausgangspunkt für das Festival Out Of The Box, das vom 11. Januar bis 2. Februar unter dem Titel „The Resonance of Time“ stattfinden wird. MARTINA TAUBENBERGER, die künstlerische Leiterin, und ihr Team haben sich auf eine Reise eingelassen – hin zur Identität, Erinnerung und Vielfalt. Drei Wochen lang wird das Festival in zehn verschiedenen Städten in ganz Bayern, mit mehr als 40 Veranstaltungen, Ort der Auseinandersetzung und des Austauschs sein, um sich den Fragen „Was bedeutet ’kulturelles Erbe’?“, „Woran erinnern wir uns?“ oder „Was macht uns unverwechselbar?“ künstlerisch zu nähern.

Alle Termine im Überblick:
https://werksviertel-kunst.de/event/festival-out-of-the-box-2025/