Die Liebe mit dreizehn – Gastautor und Filmkritiker Fritz Göttler war in „May December“ von Todd Haynes. Unser Filmtipp des Monats.
Savannah im US-Bundesstaat Georgia, vor etwa zehn Jahren. Ein schönes Familienhaus am Wasser, die Luft ist ein wenig diesig, es ist die Zeit der ausgiebigen Grillpartys, die Hausfrau bäckt für Bekannte. In Kürze werden zwei der Kinder ihre Schulabschlussfeier haben. Ein Päckchen, das der Mutter zugestellt wird, enthält Scheiße … das löst gar keinen Schock, keine Empörung aus im ganzen Haus.
May December, das ist im Englischen eine poetische Formel für eine Liebe zwischen zwei Personen, die im Alter sehr weit auseinander sind, so weit wie die beiden Monate im Jahreslauf eben. Der Film von Todd Haynes entstand nach einer wahren Begebenheit, eine zwiespältige True-love-Story.
Gracie Atherton-Yoo – die backende Frau mit dem Päckchen Scheiße – war vor Jahren in einen schlimmen Skandal verwickelt, das tragen ihr manche der ehrbaren Bürger und Bürgerinnen der Stadt immer noch nach. Gracie hat sich in den Neunzigern in Joe verliebt, dreizehn Jahre alt, Schulkamerad ihres Sohnes. Wegen Verführung eines Minderjährigen kam sie ins Gefängnis, später haben Gracie und Joe dann geheiratet, drei Kinder haben sie inzwischen. Eine unerwartete Konstellation, in unserer MeToo-Missbrauchs-Welt ist es meistens andersrum, ein älterer Mann, ein junges Mädchen …
Zu Beginn des Films bekommen Gracie und Joe Besuch, von der Schauspielerin Elizabeth, die demnächst Gracie spielen wird in einem TV-Film. Sie spricht mit Beteiligten und Betroffenen, Gracies Ex, ihrem älteren Sohn, dem Besitzer des Ladens, in dem die zwei Liebenden arbeiteten und Sex hatten – eine Tierhandlung. Julianne Moore ist Gracie, Natalie Portman ist Elisabeth. Todd Haynes sind beide Figuren nicht unbedingt sympathisch. Einmal stehen sie vor dem Spiegel, nebeneinander, Gracie schminkt sich und Elizabeth beobachtet, mit Notizblock und Stift in der Hand. In dieser Einstellung ist eine andere Szene gespiegelt – aus „Persona“ von Ingmar Bergman, zwei Frauen, denen ihre Individualität und Identität langsam zerfließt – das Bild hat Todd Haynes stark inspiriert für “May December“. Ebenso stark war der Einfluss der Musik – von Michel Legrand, der die Filme der Nouvelle Vague zum Swingen brachte („Die Regenschirme von Cherbourg“, „Die Mädchen von Rochefort“). Haynes war von dessen Musik für den englischen Film „The Go-Between“ (“Der Mittler“), 1971, von Joseph Losey gepackt. „Auf dem Flug nach Savannah zum Drehstart markierte ich alle Stellen für den Einsatz der Musik im Script. Und dann spielten wir die Musik, als wir den Film drehten. Jede einzelne Szene … Das Team war verwirrt, what the fuck, was machen wir da für einen Film. Wir spielten es den ganzen Dreh durch, wenn kein Dialog aufgenommen wurde. Alles ist darauf hin getimt, die Kamerabewegungen, die Bewegungen der Schauspieler.
Wenn es in einer Szene anfangs keinen Dialog gab, fingen wir mit der Musik an und drehten sie dann runter. Jeder summte sie, atmete sie.“ Die Frauen sind auf irritierende Weise manipulativ in diesem Film, Todd Haynes vertraut daher voll auf die Kinder – und auf den Mann Joe, wunderbar gespielt von Charles Melton in einer Mischung aus Naivität und Erfahrung. Einmal raucht er mit seinem Sohn auf dem Vordach einen Joint, und in seinem Körper spürt man immer noch eine Ahnung jener unergründlichen, unvorstellbaren Liebe eines 13-Jährigen zu einer Frau. (Ab 30.5.)