Geld oder Leben im Metropol, Lysistrate und Iphigenie im Innenhof der Glyptothek
Ulf Schmidt, 1966 in Braunschweig geboren, ist ein spezieller Theaterautor. Er bloggt auch und ist Digitalberater, und fragt immer wieder, wo das Theater mit seiner Kunst heute hin muss. Eine Antwort: Mitten in die Gegenwart. Am Metropol kennt man das, seit 2013 „Schuld und Schein” uraufgeführt wurde, ein faktenstrotzendes Konstrukt zur Finanzkrise. Die Aufführungsrechte hatte man übrigens bei Ebay ersteigert.
In ähnlichem Stil nun: „Geld oder Leben”. Die Doppeldeutung im Untertitel verrät, was in 80 Minuten verhandelt wird: „Die Krankenhaus-Abrechnung” ist Abrechnung, argumentativ bis wütend, mit dem Gesundheitssystem, und eine Abrechnung in Zahlen. Und so fliegen einem die Daten und Erfahrungen, Pros und Contras nur so um die Ohren: Zwei-Klassen-Medizin, Pflegenotstand, Fallpauschale, Kosteneffizienz. Eine Info-Tour de Force, eine schmerzhafte Tour de Farce.
Kampf um Standpunkte also, die Kampftruppe: sechs Leute auf sechs Stühlen. Auf denen sie nur selten sitzen, denn hoch agil macheten sie sich durch den Dschungel der Krankenversorgungsmaterie. Judith Toth und Patrick Nellessen sind neoliberale Kostenoptimierer, Michele Cuciuffo ist, hart am Klassenkämpfer, der Counterpart. Moderator Hubert Schedlbauer markuslanzelt köstlich, Dascha von Waberer kennt als Ärztin die Praxis und Luca Skupin ist Pflegeroboter und – Szenenaupplaus! – manischer Datenrödler.
Regisseur und Metropol-Chef Jochen Schölch macht seinem Haus zum 25. Geburtstag ein tolles Geschenk: intelligent, packend, witzig, erschreckend. Der Jubel: groß – auch wenn man aus dieser Faktenzentrifuge ein wenig hirnverklebt in die sommerliche Nacht hinauswankt.
Bleiben wir beim Sommer: In der Glyptothek heißt das (meistens) seit über 30 Jahren: im Innenhof gibt’s Theater, es gibt Wein und Brot (gegen Aufpreis auch Käse und Oliven), und es gibt Klassisches. Das ist bei den Theaterspielen Glyptothek auch unter Sven Schöcker und Alex Novak so, den neuen Leitern seit 2023. Was anders ist: früher kam immer zu einem Stück aus dem Vorjahr ein neues dazu – nun gibt es jeden Sommer zwei Neu-Produktionen. Und: die Bühne wandert im klassizistischen Hof. Dieses Jahr steht sie gestuft, goldumrandet vor einem der Fenster zu den Ausstellungsräumen. Schöner Effekt, wenn die antiken Schädel rausglotzen. Und stumm kommentieren.
Gestartet wird mit „Lysistrate”, dem antiken Friedensklassiker. Der Geschichte des legendären Sexstreiks: solange die Männer Krieg führen, geht nix. Hintergrund für die Komödie von 411 war der Peloponnesische Krieg, der schon 20 Jahre dauerte – das schreit heute nach aktuellen Bezügen, oder? Regisseur Alex Novak hat daran kein Interesse. Ein bisschen Zeitnähe ist aber doch: die Aristophanes-Vorlage wird gemixt mit einer Bearbeitung von Walter Jens, 1985 entstanden unter dem Eindruck von Kaltem Krieg und Nachrüstungsdebatte.
Eigelbbunter Umhang, Flokati-Jacke, Leiberl zu Strumpfhosen: die witzigen Kostüme kokettieren mit der Antike. Auf der Bühne nur drei Spielende. Beatrice Murmann ist eine bestimmte, auch wütende Lysistrate, Yuri Garate und Roland Schreglmann switchen mit Lust durch etliche Rollen: protestierende Frauen (die nicht sofort Fans der sexuellen Entsagung sind) bis affige Männer, alles dabei, und manchmal diffus: nicht jede Figur erschließt sich sofort, die Mikroports helfen auch dabei nicht immer. Walter Jens’ Text ist moderner, für Pathos ist trotzdem reichlich Platz in diesem Kampf der Geschlechter, der, bevor es zu ernst wird, aufgepeppt wird mit aufsteigenden Penisballons und jeder Menge Singsang, von Gabalier über „Besame mucho” und „Marmor, Stein und Eisen”. Viel Beifall für 60 angenehm sommerlich kurze Minuten.
„Goethes Iphigenie” heißt die zweite Inszenierung explizit, wohl um deutlich abzugrenzen zur letztjährigen „Iphigenie auf Aulis”. Da ging es um das Schicksal von Agamemnons Tochter, die für gute Winde geopfert werden sollte. Göttin Diana aber rettet sie auf die Insel Tauris, wo Iphigenie nun als Priesterin wirkt. Und als Frau unter lauter Männern für humanistische Ideale kämpft: so zeigt sie uns Johann Wolfgang von Goethe in seinem klassischen Text (Uraufführung Versfassung 1802). Die Bühne bleibt gleich, und auch Iphigenie ist eine starke Frau. Julia Gröbl spricht weihevoll in die Ferne, geht auch zornig in die Auseinandersetzung. Die Avancen des Königs sind unangenehm: Alexander Wagners Thoas weiß um seine männliche Wirkung, und Zurückweisung mag er gar nicht – dafür soll’s Opfer geben: Orest (Iphigenies unbekannter Bruder), von den Erinnyen gehetzter Vaterrächer (Agamemnon) und Muttermörder (Klytämnestra), und seinen Freund Pylades (ebenfalls Wagner). Orest ist bei Sebastian Krawzcinski ein kerniger, rauhkehliger Kämpfer, der schon mal das Schwert zückt. Doch Sven Schöckers unaufgeregte Regie, von Götz Grünbergs Saxofon behutsam umjazzt, lenkt klug zu einem Ende in Frieden. Großer Applaus.