ZUGABE: Einfach Boxen – Eine Kolumne von Claudia Pichler

Passgang, Diagonalgang, Gewichtsverlagerung, Hüftschwung, Kraftübertragung vom kleinen Zeh über starke Beine, quer durch den Rumpf, über die Schulter bis zur Faust

Eine rabiate Radlerin schneidet dir den Weg ab. In der Bäckerei drängelt sich ein Stoffel vor und schnappt dir die letzte Zimtschnecke weg. Der egoistische Kollege reicht mal wieder seinen Urlaub kurz vor dir ein. Die Tram fährt dir vor der Nase weg – und zur Krönung donnert ein SUV neben dir durch eine Dreckpfütze und bespritzt dich mit Schlamm.

Claudia Pichler, geboren am 2. Dezember 1985 in München, ist eine deutsche Kabarettistin und Buchautorin. Sie studierte Neuere Deutsche Literatur, Psychologie und Politik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ihre ersten Bühnenerfahrungen sammelte sie mit der Gruppe „Die drei Haxn“.

Pichler ist bekannt für ihre Auftritte in der „Grünwald Freitagscomedy“ im Bayerischen Rundfunk, wo sie als „Fachfrau für bairische Sprache und bayerische Kultur“ auftritt. Seit 2019 tritt sie mit ihrem ersten Soloprogramm „Ned blöd … für a Frau“ auf. Ihr zweites Solo-Programm „Eine Frau sieht weißblau“ hatte 2021 Premiere.

Sie wurde mehrfach ausgezeichnet, darunter mit dem Dialektpreis Bayern 2023

Manchmal braucht es nur eine Kleinigkeit und man möchte aus der Haut fahren. Selbst als überzeugte
Pazifistin könnte man sich eine Korrektur-Watschn auf geeigneter Wange plötzlich gut vorstellen. Aggressionen sind menschlich und möchten ausgelebt werden. Bevor man seine Umwelt unnötig traktiert oder daheim in einsamer Raserei in ein Kissen beißt, gibt es bessere Wege zur Kanalisierung der Wut.
In letzter Zeit freuen sich Kampfsportarten in München über großen Zulauf. Egal ob klassisches Boxen, Thaiboxen, Kickboxen oder MMA (Mixed Martial Arts) – Kontaktsportarten sind beliebt wie nie. Die Kombination von Fitness und Frustabbau klingt verlockend. So ködern beispielsweise die Boxing Sisters reihenweise kampflustige Kundinnen. Hauptsache auspowern und den eigenen Körper spüren. Bei Krav Maga, der israelischen Kampftechnik, steht die Selbstverteidigung im Vordergrund. Das stärkt zudem das Selbstbewusstsein.

Wer ernsthaft mit dem Boxen beginnt, merkt sehr schnell, dass diese Sportart weit mehr als stumpfe
Schlägerei ist. Der ganze Körper ist involviert, vor allem ein wacher Geist. Passgang, Diagonalgang, Gewichtsverlagerung, Hüftschwung, Kraftübertragung vom kleinen Zeh über starke Beine, quer durch den Rumpf, über die Schulter bis zur Faust. Kinn muss nach unten, Blick geradeaus, Gewicht auf dem Standbein, die Atmung wird an die Bewegung angepasst.

Für die richtige Technik müssen dutzende Details stimmen. Bei mancher Koordinationsübung wähnt man sich eher auf dem Tanzparkett als im Boxring, ganz gemäß dem großen Boxer Muhammad Ali: „Float like a butterfly, sting like a bee.“ – Schwebe wie ein Schmetterling, stich wie eine Biene.
Das erfordert volle Konzentration im Hier und Jetzt. Boxen bedeutet Körperkontrolle und Kopfarbeit. Da vergisst man schon mal, welche Laus einem heute eigentlich über die Leber gelaufen ist. Am Sandsack kann dann natürlich trotzdem angestaute Wut rausgeballert werden. Das imaginierte Bild des fiesen Vermieters nach der Kündigung wegen Eigenbedarfs, der skrupellosen Chefin oder des lästernden Kollegen helfen noch letzte Kraftreserven zu mobilisieren, auch wenn die Kondition schon längst verbraucht ist. So geht man auf jeden Fall erleichtert aus dem Training und ist gewappnet für den nächsten unschönen zwischenmenschlichen Kontakt.

Wahrhaftiger menschlicher kontakt ist in Zeiten von Homeoffice, Social Media und Online Dating ohnehin rar geworden. Da kommt der Trend zum Kontaktsport gerade recht, weil er uns die eigene Körperlichkeit wieder spüren lässt. Wir sitzen alle viel zu viel. Wie wohltuend ist es da, die Power zu spüren, die in uns steckt. Wenn die Grundtechniken einmal sitzen, wird das Gelernte in Partnerübungen trainiert. Das setzt gegenseitigen Respekt und Vertrauen voraus. Andere Menschen spielerisch anzufassen, kostet manch einen erstmal Überwindung, Schläge auszuteilen und zu kassieren natürlich auch. Gerade im Kampfsport sind strenge Regeln im Umgang wichtig. Im Boxwerk in der Münchner Maxvorstadt beispielsweise treffen unterschiedlichste Charaktere aufeinander. Wer sich wie ein ungehobelter Straßenschläger aufführt, wird hier nicht geduldet. Ein respektvolles Miteinander soll ein angenehmes Training für alle ermöglichen. Beruf, Alter, Geschlecht, Herkunft oder Religion spielen keine Rolle, wenn das Training beginnt. Das ist das wunderbar Verbindende, was Sport schaffen kann. Das Boxwerk will bewusst ein Treffpunkt für alle sein, ist es doch das womöglich einzige Gym in München mit integrierter Bar. Hier kann man auch ganz ohne sportliche Betätigung einen Kaffee oder eine Schorle trinken oder der Live-Musik lauschen, wenn jeden zweiten Samstag im Monat die „Footwork Session“ läuft. Und falls man auf dem Heimweg doch wieder einen unschönen zwischenmenschlichen Vorfall in der U-Bahn erleben sollte, kommt man morgen wieder und boxt sich den Frust von der Seele.

Claudia Pichler ist Münchner Kabarettistin und Autorin und tourt derzeit mit ihrem aktuellen Solo-Programm „Feierabend“, z.B. am 21.11.2024 in der Stadthalle Germering. www.claudiapichler.com