„Nachschlag“ – Die Kolumne von Moses Wolff aus der Printausgabe Juni 2024 der IN München
Gesellschaftliche Degeneration und Selbstbewusstsein sind keine Gegensätze. Gesundes Ego hin oder her, an manchen Tagen bin ich leicht überfordert von der Selbstliebe meiner Mitmenschen. Klar, keiner ist ge- zwungen, die persönliche Schrittgeschwindigkeit den Gegebenhei- ten auf dem Bürgersteig oder an der U-Bahn-Haltestelle anzugleichen, auf dem Fahrrad das Tempo aufgrund irgendwelcher Hindernisse kurzzeitig zu minimieren oder beim Marsch durch die Innenstadt den Blick mal eine Sekunde vom Smartphone zu lösen. Das Verrichten von Tätigkeiten während des Gehens ist ohnehin in den vergangenen Monaten mehr und mehr in die Mode gekommen, sei es der Konsum von Coffee-To-Go-Erzeugnissen, das Drehen von Tabak oder anderen Substanzen in Zigarettenpapier, das Verspeisen von stark duftenden Mahlzeiten, das nennt man zeitsparende Optimierung. Außerdem wäre es sehr unhöflich, anderen hung- rigen Mitbürgern am Imbiss-Stand den Platz wegzunehmen. Immer schön rein in den Organismus, der nächste Termin ruft bereits.
Zu einem gesunden Selbstbewusstsein gehört auch die Haltung: „ICH darf das.“ Es geht hier schließ- lich nicht um Miteinander, sondern um mein kleines bekacktes ICH, um MEINE Wünsche, MEINEN Glauben, MEINE Bedürfnisse, MEIN Wohlergehen. Und dann diese ewige indiskrete Fragerei, gepaart mit im- pertinenten Vorurteilen. „Ach, du sprichst Deutsch, ob- wohl du Vangelis heißt?“ „Kann es sein, dass du seit un- serem letzten Treffen zugenommen hast?“ „Moses? Ist das ein Spitzname? Nicht? Sind deine Eltern denn so gläubig?“ Wenn ich in seltenen Fällen ehrlich antworte: „Sie fanden einfach den Namen schön. Punkt“, werden originelle Sätze fabriziert wie: „Und, heute schon das Wasser geteilt?“ oder „Hast du dein Bastkörbchen dabei?“ oder „Wo sind denn deine Steintafeln mit den zehn Geboten?“
Es ist kaum auszuhalten. „Nein, ich habe keine jüdischen Vorfahren, obwohl der Name biblischer Her- kunft ist. So wie Anna, David, Johannes, Maria und Stefan.“ Da diese Namen in unseren Kreisen üblicher sind, werden diese Leute vermutlich seltener befragt oder mit flotten Sprüchen bedacht. Ich habe jedenfalls noch nie gehört, dass jemand eine Maria fragt: „Und? Heute schon eine unbefleckte Empfängnis gehabt?“
Jeder Mensch soll doch einfach so leben, wie er mag, solange er/sie/es dabei niemanden belästigt. Leider will auch das nicht so recht funktionieren. Offenbar fällt es manchen Einzelpersonen und Gruppen schwer, zu akzeptieren, dass jegliche Religion und Konfession auf ihre eigene Weise den Weg zur spirituellen Erfüllung bietet und der Glaube eine Quelle der Kraft und Inspiration sein sollte. Das hat leider nie so ganz hingehauen, die schrecklichsten Taten wurden begangen, weil irgendwelche Leute ihre Wahrheit als die einzig akzeptable ansehen und zu- dem noch das für mich völlig unverständliche Gefühl des Hasses hinzukommt. Es war schon immer wichtig, Toleranz, Respekt und Verständnis zwischen den einzelnen Religionen anzustreben, auch wenn es mühsam ist.
In Wirtshäusern oder anderen Orten, an denen viel diskutiert wird, höre ich bisweilen voreingenommene Ansichten über andere Kulturen, egal, welcher Art, selten sind diese Äußerungen sachlich. Immer wieder wird beispielsweise die Regierungspolitik eines Landes mit der Bevölkerung gleichgesetzt, was aber, mit Verlaub, unbesonnen ist. Es gibt, man höre und staune, in jedem Land auch regierungskritische Geister. Nicht alle Deutschen finden Olaf Scholz gut, nicht jeder Kroate unterschreibt die Aussagen der jeweiligen amtierenden Politiker, nicht jeder Chinese ist mit der chinesischen Regierung einverstanden. In einer Welt voller Bewertungen, Triggerwarnungen, Empörungen und Eitelkeiten, die von Unterschieden und Spaltungen geprägt ist, liegt die wahre Essenz unserer Menschlichkeit in der Fähigkeit zur Versöhnung. Wenn es nach mir ginge, könnten wir, die wir alle gemeinsam auf unserem Planeten wohnen, uns trotz vielfältiger religiöser und konfessioneller Überzeugungen gemeinsam auf eine Grund- lage der Liebe und des Mitgefühls einigen. Jeder Mensch trägt, davon bin ich überzeugt, Werte der Nächstenliebe, der Empathie, des Verständnisses und der Toleranz in sich. Drum: Lasst uns doch versuchen, gemeinsam feinfühlige Brücken des Verständnisses zu bauen und aus Intoleranz erbaute Mauern niederzureißen.
Moses Wolff ist Schauspieler und Autor, trinkt am liebsten Bier vom Giesinger Bräu und betreibt gemein- sam mit Anne Meinhardt und Christoph Theussl die älteste Münchner Lesebühne „Schwabinger Schaum- schläger“ in der Schwabinger Gaststätte Vereinsheim.