Platten aus nah und fern: Unsere musikalischen Empfehlungen für den Oktober 2024

Neue Platten von Nick Cave & The Bad Seeds, Mercury Rev, International Music, Tindersticks, Jesper Munk u.a.

Nick Cave & The Bad Seeds – Wild God

„Ich hoffe, das Album hat auf die Hörer die gleiche Wirkung wie auf mich“, gab Nick Cave unlängst zu Protokoll. Und, dass es ihn mitreißt, wenn er es sich anhört. Unterschreibe ich sofort, denn ja „Wild God“ packt einen vom ersten Takt an und: es euphorisiert geradezu. „Es scheint, als wären wir glücklich“, fügte Cave noch hinzu. Er, der seine beiden Söhne zu Grabe trug und (nicht erst, aber dann verstärkt) seither auf der Suche nach Gott, Erlösung und Sinnhaftigkeit ist. Glaubt man Wilhelm Gottfried Leibniz hat Gott einst die beste aller möglichen Welten geschaffen. Da gehört Schmerz nunmal unweigerlich dazu. Zusammen mit seinen Bad Seeds bewegt sich Nick Cave zwischen wohl nötigen Konventionen und – zugegebenermaßen – nicht allzu waghalsigen Experimenten. Nimmt Umwege in Kauf, erzählt wie gehabt in üppigen, faszinierenden Bildern und lässt seinen Emotionen freien Lauf. Vor sechs Jahren habe ich Nick Cave & The Bad Seeds im toskanischen Lucca auf dem Piazza Napoleone live erlebt, es ist bis heute das wahrscheinlich wichtigste Konzert, das ich jemals gesehen habe. I can feel your heartbeat Mr. Cave! Beeindruckend! (18.10. Olympiahalle)

Mercury Rev – Born Horses

Weil wir grad schon bei Nick Cave waren. Die hier, also Jonathan Donahue und sein All- Time-Busenfreund Sean `Grasshopper´ Mackowiak mitsamt ihren Mercury Rev, waren mal – ich glaube 2004 – Support im Zenith von The Bad Seeds. Das wurde gut angenommen, aber erschien vielen dann doch nicht so wichtig. Sonst hätten viel mehr der Anwesenden für sich erkannt, welche Genies hier am Werk sind, und das jetzt auch schon seit geschlagenen 35 Jahren. 2015 habe ich sie dann, einen Tag nach dem Massaker beim Eagles Of Death Metal-Konzert im Bataclan, noch einmal live gesehen. Es waren vielleicht so 150 Leute da, ein bedrückender Abend, und immer wenn jemand die Kranhalle betrat wurde einem schon etwas mulmig und man musterte genau, ob da nicht doch irgendwie eine Schnellfeuerwaffe aufblitzt. Aber zurück ins Hier und Jetzt: Auf „Born Horses“ nun erfinden sich Mercury Rev zumindest ein bisschen neu. Ihre ausufernden Psychedelic-Rockopern wurden zu urbanen, epochal ausgeschmückten Spoken-Word-Ambient-Jazz-Rockern, die die ganze Aufmerksamkeit fordern und diese selbstredend natürlich voll und ganz verdienen. Starke Platte.

International Music – Endless Rüttenscheid

OMG ! Ich bin mal wieder schockverliebt. „Kraut“ der Opener kommt mit 60s- Dauer-Tremolo-Gitarre – kurz fühlt man sich gar an Canned Heats „On The Road Again“ erinnert – und stoisch stampfendem Rockgroove daher, fällt im Refrain in schwelgerisch-verträumte Halftime und nimmt erneut Fahrt auf. Auch „Fehler“ klingt retrospektiv und verzaubert Freunde des Sixties-Sound genauso wie die der „Hamburger Schule“. Überhaupt ist das Nebenprojekt der beiden Düsseldorf Düsterboys Pedro Goncalves Crescenti und Peter Rubel unter der Mithilfe von Joel Roters ein eklektisches Wunderwerk: 60ies Beat und Boogie treffen auf 70ies Krautrock und 80ies New Wave auf 90ies Shoegaze und Postrock. Das enthusiastische, ja geradezu beflügelnde „Liebesformular“ z.B. könnte so auch von Ride oder My Bloody Valentine sein, während der melancholisch gestimmte Titelsong – über jenen gentrifizierten Essener Stadtteil Rüttenscheid – mit seiner Chorus-Gitarre und dem verhaltenen Gesang oder das stoisch-verträumte „Lass es ziehen“ in ihrer bescheidenen aber selbstbestimmten Anmut auch von The Velvet Underground hätten sein können. Muss ich mir unbedingt live anhören! (13.10. Technikum)

Tindersticks – Soft Tissue

Niemand, wirklich niemand singt so wie Stuart Staples. Das nennt man dann wohl charismatisch, denn Staples würde man unter Millionen von Croonern heraushören. Definitiv. Und das tut so gut, wie einen die durchweg soulig interpretierten Popsongs sanft umarmen, Geborgenheit spenden und mit geradezu vertrauter Zärtlichkeit über den Kopf streicheln. Der Titel ist also schon mal gut gewählt. Zuletzt habe ich die Tindersticks in den Kammerspielen gesehen, ist auch schon wieder acht Jahre her. Vermutlich ist es – Stand heute – nach dem eben schon erwähnten Cave-Konzert, das zweitwichtigste Konzert meines Lebens gewesen. Erste Reihe, Mitte und ein Stuart Staples, der mir bei der einen oder anderen feucht ausgesungenen Zeile vor die Füße gespuckt hat. Vielen Dank nochmal an die freundlichen Damen und Herren des Labels City Slang, die mir damals die Karten ermöglichten. „Soft Tissue“ nun ist ein besonders nachhaltiger Ohrschmeichler wie er sehnsuchtsvoller kaum sein könnte, jetzt, wo es wieder früher dunkel wird und man sich gerne mal bei einem Glas Rotwein daheim die Decke über den Kopf zieht. Ich liebe diese Band einfach: schon immer und ganz bestimmt bis in alle Ewigkeit.

Jesper Munk – Yesterdaze

Jesper Munk is back, Baby! Fünf Jahre nach dem letzten Album mit eigenen Songs nun der nächste Streich. Und der erscheint nicht irgendwo. Stilecht beim renommierten Label Glitterhouse wird hier aber gleich sowas von Einstand gefeiert. Beginnend beim Titeltrack: Eine Drum-Machine, eine Hammond, Vocals, später noch eine verträumte Gitarre: Als hätten Prince und Cigarettes after Sex zusammengearbeitet und eben doch ganz eigen. „Tiny Heart“ (Video gucken!) ist New Wave auf sein Skelett reduziert, „Rush“ sogar wunderbar verschrobener Doo Wop mit Hawaii-Slide-Gitarre und „Bearing Gifts“ der ausladende Streicher-Baroque Pop Song, den Richard Hawley immer schreiben wollte. Das alles schön entrückt produziert. Die Klänge scheinen á la Ariel Pink aus einer anderen Sphäre in die unsere zu schallen. Über allem thronend und die Stücke gen Himmel rückend: diese vor Eleganz strotzende Stimme, die sich gefühlt mehr Eigenheiten auszudrücken traut als bisher – was sich wunderbar einfügt. Insgesamt trotz Minimalismus ein sehr buntes Album mit ganz eigenem Charakter, was dem Hörer neue Ästhetiken zutraut und ihn dafür zur Belohnung umarmt. Perfekt für den Herbst. Große Vorfreude aufs Konzert. (27.11. Volkstheater) FRANZ FURTNER

KURZ & KNAPP

LOS BITCHOS – Talkie Talkie

Erfrischend was Gitarristin Serra Petale, Agustina Ruiz an den Keyboards und ihre Rhythmussektion bestehend aus Josefine Jonsson (b) und Nic Crawshaw (dr) hier anbieten. Es ist eine überbordende, ja geradezu ausgelassen fröhliche Mischung aus Funk, Disco, Latin und türkischer Folklore, also fast schon wieder tanzbare Weltmusik mit einem Schuss edgy Indierock.

GALLIANO – Halfway Somewhere

Kann sich noch jemand an das Genre „Acid-Jazz“ erinnern? Rob Gallagher seines Zeichens Galliano-Chef war so etwas ähnliches wie der Gründervater. Jetzt kehrt er satte ca. 30 Jahre nach seinem letzten offiziellen Release mit einer einmal mehr tanzbaren Melange aus Cosmic, Funk, Jazz, Dub, Rap und Reggae zurück. Interessant!

LONDON GRAMMAR – The Greatest Love

Bei der zweiten Single „Kind Of Man“ nahm Hannah Reid mal wieder kein Blatt vor den Mund und prangerte, aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen, gewohnt engagiert die allgegenwärtige Misogynie in der Musikindustrie an. Schöner, gediegen unterhaltender Electropop auch die erste Single „House“. Alles in allem: solide!

DIE NERVEN – Wir waren hier

Erstmals ohne ihren Allzeit-Produzenten Ralv Milberg kommt die Berlin-Stuttgarter Spielvereinigung Die Nerven daher. Aber, keine Sorge, es blieb musikalisch alles beim Alten: Gewohnt wütend („Ich will nicht mehr funktionieren“), lärmig („Als ich davon lief“), (melo)dramatisch („Disruption“) und zuweilen auch verletzlich („Das Glas zerbricht und ich gleich mit“) zeigen sich Die Nerven in Topform. (14.11. Technikum)

HEIMSPIEL – Platten aus München

RAKETENUMSCHAU – Ist es die Euphorie?

„Die Hamburger Schule um Blumfeld und Co. hätte jedenfalls in Raketenumschau einen weiteren Meister gefunden“ schrieb Dirk Wagner einst in der SZ. Und im CURT stand zu lesen: „Der kometenhafte Siegeszug der Münchner Band ist so eines dieser kleinen Phänomene am Firmament der Münchner Musikszene.“ Die Erwartungshaltung ist als enorm, die Latte liegt hoch. Selten debütierte ein Act aus unserer Stadt mit so viel Vorschusslorbeeren, die im Übrigen alle völlig zu recht verteilt wurden, die letzten zwei, drei Jahre über. Nun aber das erste Longplay-Album, eines, dass es in sich hat: Uptempo-Deutschpop, mal an Die Sterne mal an International Music oder auch die ganz, ganz frühen Sportfreunde Stiller erinnernd. Großes Kino von „Rosamunde Pilcher“ über „Das blaue Auto“ bis hin zu „Ich mach’s auf“. Führt kein Weg dran vorbei, schon gar nicht an den mitreißenden Live-Darbietungen des Quartetts, so auch bestimmt wieder bei ihrer Record-Release-Show am 9.10. im Strom.