Es gibt viele schöne alte Geschichten aus Bayern. Eine der schönsten und berühmtesten ist die vom Brandner Kaspar, ursprünglich erdacht vom Franz von Kobell, dessen Urenkel Kurt Wilhelm jene großartige Bühnenfassung schuf, die bis heute Stoff für allerlei Kulturgut bietet. Hier eine kleine Zusammenfassung: Der verwitwete Brandner Kaspar ist 75 Jahre alt. Einst war er von Beruf Schlosser und Büchsenmacher. So lebt er gemeinsam mit seiner Enkelin, der Marei, oberhalb von Tegernsee in Bescheidenheit. Auf einmal kommt ein merkwürdiger Gesell zur Tür herein und stellt sich als Boandlkramer vor. Da der Brandner der bairischen Sprache mächtig ist, weiß er, was das bedeutet: Boandlkramer heißt auf Hochdeutsch „Gebeinkrämer“, also jemand, der Knochen oder anderen wertlosen Tand verkauft.
In Wahrheit ist der Boandlkramer aber niemand geringeres als Gevatter Tod persönlich. Und worin besteht dessen einzige unwürdige Aufgabe? Menschen, deren Tage gezählt sind, abzuholen. Drum mag ihn auch kaum jemand, er ist, um die Worte von Franz Josef Strauß zu bemühen, eine „tragische Figur“. Gibt es mal Ärger im Wirtshaus, heißt es: „Jetzt fallt glei der Watschnbaum um“, was im schlimmsten Fall einen Satz Ohrfeigen zur Folge hätte. Kommt jedoch der Boandlkramer vorbei, schaut es bitter aus. Nicht aber für den Brandner Kaspar, der neben hohem Lebenswillen auch eine große Portion Listigkeit in sich trägt. Er erkennt in dem bleichen, hohläugigen, dürren Klappergestell mit den eingefallenen Wangen eine hilflose, auf eine gewisse Weise sogar sympathische, aber dennoch bemitleidenswerte Kreatur, die, sei es aus Resignation, sei es aus Überdruss, sei es aus Langeweile, sich möglicherweise in eine Falle locken ließe.
So weigert sich der Brandner kurzerhand, mitzukommen, weil es noch zu früh sei für ihn. Immerhin sei sein Herr Vater 90 Jahre alt geworden und das wolle er gefälligst auch. Ehe der Boandlkramer sich versieht, ist ein guter Kirschgeist eingeschenkt und der Brandner schlägt vor, um das ewige Leben Karten zu spielen. Dem Tod ist derlei noch nie widerfahren, also lässt er sich auf das Spiel ein, nicht ahnend, dass sein Spielpartner ihn bescheißt. Immerhin geht es ja um sein Leben. Irgendwann ist der Boandl dann besoffen und der Brandner hat sich fünfzehn weitere Lebensjahre erschlichen. In den meisten danach entstandenen Geschichten bekommt der Tod später Ärger mit Petrus und Konsorten, weil die ganze Sache rauskommt und versucht den Brandner zu überlisten, in dem er ihn ins Paradies schauen lässt, wo der seine halbe Sippschaft wiedertrifft und sich freut wie ein Schneekönig. Und der Boandl hockt vor der Hütte und sauft Kirschgeist.
Dieses Jahr erfährt der Boandlkramer zwei große Ehrungen. Die eine ist etwas merkwürdig, die andere sensationell. Zuerst zur merkwürdigen: aus nicht näher bekannten Gründen nennen die Nachfolger von Beppi Bachmaiers Herzkasperlzelt ihren Betrieb „Boandlkramerei“, was möglicherweise daher rührt, dass sie nicht wussten, dass Herzkasperl der Spitzname von Jörg Hube war und daher perfekt zu jenem wundervollen Kulturprogramm passte, das seit 2010 auf der Oidn Wiesn stattfand. Sie dachten vermutlich Herz-„Kasperl“, das hört sich ja fast so an wie „Kaspar“ und die Geschichte vom Boandlkramer kennt auch ein jeder. Aber ein Festzelt nach dem Tod zu benennen, ist, wie gesagt, merkwürdig. Müssen sie selber wissen.
Jetzt zur sensationellen Ehrung: Mike Maurus, genialer Illustrator der Zeichentrickeinspieler der Fußballreihe „Die wilden Kerle“, hat ein Boandlkramer-Schafkopfspiel erfunden mit lauter Figuren aus Bayern und dem Brandner-Kaspar-Universum. Jede einzelne Karte wurde höchst einfallsreich neugestaltet: der Eichel-Ober ist der heilige Petrus, der Herz-Ober der Brandner selbst, der Herz-Unter die Enkelein Marei, der Schelln-König seine Majestät König Ludwig II. und der Schelln-Ober der wundervoll gruslig gezeichnete Boandlkramer. Eine gelungene Idee, thematisch und künstlerisch perfekt, für Jung und Alt. So schließe ich diesen Text mit einem frei übersetzten Satz vom Brandner Kaspar: „Oid? Wo samma mir oid? I gspier nix davo.“
Moses Wolff ist Münchner Autor, Regisseur und Schauspieler. Sonntags schlägt er mit anderen Leuten im Schwabinger Vereinsheim Schaum. Seine Freizeit verbringt er gern in Wirtshäusern, in erster Linie solchen, wo es Bier vom Giesinger Bräu gibt.