Lesen! Unsere Buchempfehlungen für Oktober

Aktuelle Bücher von Hans Janowitz, Theodora Bauer, Adriano Sack und Alexa Hennig von Lange

Hans Janowitz – Jazz (Weidle Verlag)

Spätestens im Herbst des gemächlich ausklingenden Kafka-Jahres sei an dieser Stelle auch ein Blick auf jene geworfen, die sich im viel gerühmten Prager Kreis zusammen mit dem werten Franz so tummelten: Da gibt‘s Max Brod, Franz Werfel, Friedrich Torberg und dann irgendwann … Hans Janowitz (1890 – 1954). Trotz seiner Co-Autorschaft des Drehbuchs zum expressionistischen Filmklassiker „Das Cabinet des Dr. Caligari“ ist dieser in Deutschland, dem Land, das ihn 1939 zur Emigration aus der Tschechoslowakei in die USA zwang, leider unbekannt. Höchste Zeit ihn wiederzuentdecken. In seinem einzigen erhaltenen Roman „Jazz“ (1924) erzählt Janowitz von Henry, einem vom britischen Adel geschassten Bohemien, der in der Pariser Jazzszene zu Ruhm und Ehre kommt und sich schließlich zwischen zwei Damen, der Tänzerin „Baby“ und einer Frau aus seiner Vergangenheit, wiederfindet. Das Was des Erzählens fällt dabei aber weit hinter dem Wie zurück. Während die Streifzüge durchs nächtliche Paris anhand von „Jazz-Band-Boys“, Opiumzigaretten, beunruhigend wortgewandt beschriebenen Frauenbeinen und vielem mehr aus dem nokturnen Großstadtpanoptikum die Atmosphäre beschwören, sind es die strukturellen Experimente, die den Roman zur Jazz-Lektüre umformen: Start-Stopp-Dynamiken, Wiederholungen, Leser*innenansprachen, Perspektivwechsel … Auf den knapp 140 Seiten herrscht ein Stilpluralismus zum schwindlig werden. So bleiben konkrete Figuren und Plot auf Distanz, dafür rücken die Schnelllebigkeit der Großstadtexistenz und nicht zuletzt der Roman als Kunstwerk selbst in den Fokus. Die Erkundung von beidem bereitet wahrlich diebische Freude. Abgerundet wird das von einem sehr informativen Nachwort von Rolf Rieß und einer Playlist mit Ragtime- und Dixie-Nummern der Zeit. Ein wunderbares Buch.
Franz Furtner

Theodora Bauer – Glühen (Rowohlt Berlin)

Einfach mal raus aus der großen Stadt. Weg von der Hektik. Und kurz Ausklinken aus den überhitzten Debatten an der Uni. Aus den Redeordnungen und aus der Denkschule, die eigentlich frei sein möchte und oft doch arg klemmt. Die junge Frau, die sich Lima nennt und über Arthur Schnitzler und dessen schwitzige Frauengeschichten bestens Bescheid weiß, macht etwas hinreißend Altmodisches: Sie fährt aufs Land – auf Sommerfrische. Und mit jedem zurückgelegten Abstandskilometer dreht sich auch die Zeit zurück. Plötzlich liegt Lima im Heu, lässt den kitsch-romantischen Wald rauschen und entdeckt einen Mann, der mäht. Mit einer Sense, wie putzig. Und doch ist er auch am nächsten warmen Tag wieder da. Lima wird doch nicht etwa? Ja, doch: Sie verliebt sich. Beide lassen sich auf ein Verführungsspiel ein, bei dem die Masken fallen und alles plötzlich ganz einfach wäre. Wäre – wenn denn nicht Michael, der lange wirklich wie ein Engel wirkte, plötzlich verschwunden wäre. Kann Lima, die selten ihren intellektuellen Schutzpanzer verlässt, wieder Sicherheit finden? Theodora Bauer, die schon mit ihrem Debütroman „Das Fell der Tante Meri“ Furore machte und einen selbstbewusst feministischen Ton zurück in die Wiener Welt brachte, verrätselt eine Liebesgeschichte so sehr, dass man beim Lesen auf angenehme Weise jeden Halt verliert. Charmanter Schmäh!
Rupert Sommer

Adriano Sack – Noto (Nagel und Kimche)

Adriano ist tot, Alkohol, brennende Zigarette, Sofa, Rauchvergiftung. Sein Mann Konrad reist in dumpfer Schockstarre nach Sizilien, dort haben sich die beiden mit einem Landhaus nahe Noto einen Lebenstraum erfüllt, der jetzt jäh unterbrochen wurde. Konrad weiß nicht, ob er das Haus verkaufen soll; der Abschied fällt schwer, die Erinnerungen, zum Teil in Form von Gesprächen mit dem Verstorbenen, machen die Sache nicht einfacher. Und da wären noch die liebgewonnen deutschen Nachbarn Jenny und Johannes mit ihren exzentrisch-entzückenden Kindern, der neue Liebhaber Santi, der fast eine Katastrophe auslöst, und die korrupt-mafiösen Handwerker, Makler und Anwälte, die Meister im Steine in den Weg legen und wieder Verschwinden lassen sind. Dass eine der schönsten Barockstädte der Welt in diesem von skurrilen Figuren und Einfällen strotzenden tragikomischen Roman über Liebe und Verlust, dieser bissigen Gesellschaftssatire und pointierten Reiseerzählung nur eine untergeordnete Rolle als Tableau für Meetings spielt, ist leicht zu verschmerzen. Denn dem zum Teil auch auf Sizilien lebenden Autor gelingt hier nicht weniger als eine wohl zum Teil autofiktionale Liebeserklärung mit allen Höhen und Tiefen an die wohl faszinierendste Insel im Mittelmeer und deren eigenwillige Bewohnerinnen und Bewohnern – ob dort geboren oder zugezogen. Ottimo libro, Bravo.
Rainer Germann

Alexa Hennig von Lange – Vielleicht können wir glücklich sein (Dumont)

Ist Thüringen 1930 die Blaupause für Thüringen 2024? Können Bücher den Durchmarsch der Rechten aufhalten, gar verhindern? Kann es Hoffnung geben, wenn alles in Trümmern liegt? Bin ich naiv? Vermutlich. Im letzten Teil der (teilbiographischen) Klara Erfurt-Trilogie steht der Krieg kurz vor dem Ende. Klara hat nach der Geburt ihrer Kinder die Leitung der Erziehungsanstalt für Mädchen abgegeben und sich ins Private zurückgezogen. Was tun, um die zu schützen, die man liebt? Um die Anstalt zu retten – die Mädchen brauchten Schutz, Bildung und Führung – ging sie einen Pakt mit dem Teufel ein. Sie bekam die Gelder in Zeiten knapper Kassen nur, weil die Einrichtung zu einer nationalsozialistischen Vorzeigeanstalt wurde, mit Hakenkreuzflaggen, Himmler-Besuchen bei Kaffee und Kuchen und allem Pipapo. Aber wegducken, wenn es eng wird, um die Kinder und den Mann an der Front zu schützen? Sich einreden, man hat das Furchtbare nicht kommen sehen und plötzlich konnte man nicht anders, als Teil dieses barbarischen Systems zu sein? „Waren alle Nazis gewesen? Oder hatte ein Großteil der Leute damals Angst? Wie viel hatte die Bevölkerung gewusst und wie viel hatte sie nicht sehen wollen? Wie lebten die Menschen danach weiter?“ Spätestens nach den Rassen-, Reichsbürger- und Blutschutzgesetzen 1935 (!) – zwei Jahre nach der Machtergreifung – hätte allen Deutschen klar sein müssen, wohin sich die Gesellschaft entwickelt. Und heute? Noch ist nicht Thüringen 1930.
Martin Welzel