IN-München-Review: So wars bei … Dominic Raacke im Künstlerhaus

Schauspieler Dominic Raacke und Pianistin Isabel Lhotzky erwecken mit „Mythos Titanic“ das berühmteste Schiffsunglück der Welt zum Leben

Nach einer herzlichen Begrüßung durch Künstlerhaus-Vorstand Jennifer Ruhland geht es los: Lhotzky und Raacke kommen über eine Seitentür in den wunderschönen Saal des Künstlerhauses, das heuer sein 125-jähriges Jubiläum feiert, als würden sie neugierig staunend einen der großen Ballsäle dieses angeblich unsinkbaren Wunderwerks der Technik namens Titanic betreten.

Im Hintergrund hört man dezentes Möwengeschrei, und Schiffshörner deuten Hafenatmosphäre an, bevor Isabel Lhotzky mit einem Intro am E-Piano beginnt und Philipp Glass in den Zuschauerraum perlen lässt. „Wir bauten das Schiff so, dass es schwimmen konnte. Wir bauten es nicht, damit es gegen einen Eisberg oder eine Klippe fahren konnte. Unglücklicherweise geschah gerade das“, zitiert Raacke gleich zu Beginn Alexander Carlisle, einen der Direktoren der Werft Harland & Wolff, der nach dem Unglück vor den britischen Untersuchungsausschuss geladen war.

Dominic Raacke ist den meisten Zuhörer*innen noch als tougher Hauptstadt-Tatort-Kommissar Ritter in bester Erinnerung. Natürlich kann er auf unzählige Film- und Theaterproduktionen zurückblicken, arbeitete als Drehbuchautor und Synchronsprecher – seinem raumgreifenden Bassbariton lauscht man gerne, auch heute Abend.

Wir erfahren Zeitzeugnisse aus erster Hand von Überlebenden, wenn Raacke ärmere und sehr reiche Passagiere zu Wort kommen lässt. Bei den massenhaft verschickten Telegrammen – die Titanic hatte als erstes Schiff ihrer Zeit eine Station, die auch von Passagieren genutzt werden konnte – läuft es einem eher kühl den Rücken hinunter, denn die wenigsten haben den Ankunftsort New York lebend erreicht.

Dominic Raacke leiht seine Stimme dem 17-jährigen Jack Thayer: „Das Schiff beherbergte 2208 Personen. 703 Menschen verließen die Titanic in den Rettungsbooten. Von den 1553, die mit dem Schiff untergingen, wurden 42 gerettet; 28 auf einem Rettungsboot, das kieloben schwamm, und von diesen war ich einer.“ Thayer spricht von den technischen Innovationen einer aber durchaus friedlichen Zeit: „Ich denke, die Katastrophe der Titanic riss die Welt jäh aus dem Schlaf und stürzte sie in ein sich zunehmend beschleunigendes Tempo mit immer weniger Frieden, Zufriedenheit und Glück. Meiner Meinung nach erwachte die Welt von heute am 15. April 1912.“

Immer wieder tritt der Schauspieler in Dialog mit der Pianistin; Isabel Lhotzky wechselt mühelos zwischen cineastischen Improvisationen mit einfachen akustischen Effekten – wie dem Reiben an den tiefen Saiten des aufgeklappten Flügels – und einem popkulturellen Frühwerk. Auch wenn es Chansons wie La mer (Charles Trenet, 1943) genau wie manches Stück aus dem Great American Songbook zum Zeitpunkt der Jungfernfahrt im April 1912 noch gar nicht gab, so doch zumindest die ebenfalls eingestreuten Charleston- und Ragtime-Passagen.

Die Auflistung (9 Millionäre, 45.000 Tafelservietten, fünf Konzertflügel, 800 Bund Spargel, ein Koffer mit Diamanten im Wert von 300 Millionen Dollar und 40.000 Eier) und die Schilderung des puren Prunks des schwimmenden Palastes durch einen Passagier der 1. Klasse namens Arthur Gee wird ergänzt durch recht süffisante Bemerkungen – zum Beispiel vom amerikanischen Maler Francis David Millet, der sich über seine „unausstehlichen, protzigen“ weiblichen Landsleute der 1. Klasse beschwert.

(c) Rainer Germann

Zu Beginn des zweiten Teils wechselt der Text bald zu einer Aneinanderreihung seemännischen und menschlichen Versagens, u. a. auch durch Kapitän Edward John Smith, die Raacke sehr trocken zum Besten gibt. Eiswarnungen wurden ignoriert, das Schiff stampfte mit 22,5 Knoten durch den von immer mehr Eisbergen bevölkerten Nordatlantik. Als Visionärin erwies sich Esther Hart, die mit Mann und Tochter auf die Titanic „upgegradet“ wurde und von vornherein nicht mitfahren wollte. Das als „unsinkbar“ bezeichnete Schiff würde laut ihrer Mutter die Götter herausfordern, wird Tochter Eva zitiert – eine Überlebende.

Eindrucksvoll schilderte Raacke die Kollision mit dem Eisberg aus Sicht der Passagiere und der Brücke: An sechs Stellen wurde der Rumpf aufgeschlitzt und die verschiedenen Abteilungen liefen voll. Konstrukteur Thomas Andrews meldete dem Kapitän die verbleibende Zeit bis zum Untergang: etwa zwei Stunden. Spätestens jetzt haben Raacke und Lhotzky die volle Aufmerksamkeit des Publikums, das gebannt dem Horror des Untergangs lauscht: „Es gab keinen allgemeinen Alarm, keine Glocken oder Sirenen. Die Schiffsoffiziere wurden nicht formell zusammengerufen, man bemühte sich nicht um geordnete Abläufe oder um ein einstudiertes System von Sicherheitsmaßnahmen“, so Senator William Alden Smith vom amerikanischen Untersuchungsausschuss.

(c) Rainer Germann

Das Chaos der Evakuierung nach dem Prinzip women and children first wird im Einklang mit Raackes auch mimisch facettenreichem Vortrag bestens transportiert. Ein emotionaler Höhepunkt des Abends ist die Schilderung des sich in den Untergang spielenden Orchesters, das man bis in die Rettungsboote hören konnte. Als letztes Stück wurde angeblich das Kirchenlied „Nearer, My God, To Thee“ gespielt – und in den Booten mitgesungen.

Zum Schluss zitiert Dominic Raacke den Kapitän der herbeieilenden Carpathia, die die Überlebenden der Titanic aufnahm: „Wenn man im Wörterbuch nachschlägt, findet man: Titanen – eine Rasse von Menschen, die vergeblich versuchen, die Kräfte der Natur zu überwinden. Könnte es etwas Unglücklicheres geben als einen solchen Namen?“

Am Ende hört man Atem und Wind – und danach: Stille.

(c) Rainer Germann

Mit großem Applaus geht ein eindrucksvoller Abend zu Ende, der als szenische Lesung spannend wie ein Film war und Appetit auf weitere Aufführungen dieser Art macht – zum Beispiel mit Benno Fürmann & Klavierquartett über Scotts und Amundsens dramatischen Wettlauf zum Südpol (22.11., Allerheiligen-Hofkirche).

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