Lesen! Unsere Buchempfehlungen im April

Neue Bücher von Tommie Goerz, Christine Wunnicke, Laurent Binet, Thorsten Nagelschmidt, Christoph Kramer und Mercedes Lauenstein

Tommie Goerz – Im Schnee (Piper)

Die Männer sitzen in der Wirtschaft am Ofen, nur die Lichter über dem Tisch und dem Tresen sind eingeschaltet, der Rest der Gaststube liegt im Dunkeln. Ein Haus steht leer im Dorf, die Kirche möchte es vermieten, Flüchtlinge sollen einziehen. „Was hätte denn der Schorsch gesagt?“, fragt einer „Wahrscheinlich“, sagt der Max, „dass das jetzt die Jungen angeht. Denen gehört ja die Welt. Wir sind ja nicht mehr lange da.“ Der Schorsch ist seit ein paar Tagen nicht mehr da, einfach gestorben, ohne seine Lieblingsäpfel, den Martini und Rheinischen Krummstiel, aus Max’ Garten aufzuessen. Die beiden waren befreundet, ein Leben lang, und vielleicht war da noch etwas anderes als Freundschaft, das Tommie Goerz immer wieder verhalten anklingen lässt in diesem kleinen Roman, der eine ganz große Wirkung entfalten kann und zumindest den Autor dieser Zeilen nicht mehr loslässt. Max lässt sein (Land-)Leben Revue passieren bei der Totenwache für den Schorsch; erinnert sich an Nachbarn, die immer noch wie Geister durch die dörfliche Gemeinschaft huschen: „Die Weggegangenen sind überall“, steht als Zitat von Étienne Kern diesem schmalen Band voran. Wie eine Zwiebel lässt der Autor den ruhigen Max, der immer allein gelebt hat, Schicht um Schicht der vermeintlichen Dorfidylle abschälen – die meditative Ruhe, die Goerz in seiner Beschreibung von Men-schen und Natur aufs Papier bringt, überträgt sich, jagt aber auch gelegentlich einen kühlen Schauer über den Rücken. Wer sich das Landleben immer schon als ein Ideal vorgestellt hat, wird hier mit einer höchst kargen und auch ziemlich beengenden Realität konfrontiert. Meisterhaft erzählt Tommie Goerz von einer vergangenen Welt – und man fragt sich bei der Lektüre, ob man ihr nachtrauern soll. (Lesung am 1.4. im Literaturhaus)
Rainer Germann

Mercedes Lauenstein – Zuschauen und Winken (Blumenbar)

„Das ist das Leben, denke ich: Sehnsüchte stehen verloren in der Realität herum. Unser Schicksal ist ganz normal.« Doch der Alltag des jungen Liebespaares in dem neuen Roman der Münchner Autorin Mercedes Lauenstein ist alles andere als normal. Die Protagonistin schreibt eine Arbeit über die Kulturgeschichte des Moores an der Universität, die nicht vorangeht. Und ihr Freund Miro leidet an einer namenlosen Krankheit, die niemand zu behandeln weiß und die dem Paar weitestgehend einen geregelten Alltag unmöglich macht. In ihrem Forschungstagebuch sammelt die Erzählerin Beobachtungen zu mysteriösen Moorlandschaften und gleichzeitig Notizen über die unzähligen Arztbesuche und kuriose Alltagssituationen und versucht so gegen das Diffuse und das Chaos der Dinge anzuschreiben. »Ich lese: Ein Moor ist Wasser und Land. Es ist nass und trocken. Es ist flüssig und fest. Miro ist gesund und krank. Susan Sontag sagt: Jeder Mensch hat einen Pass im Reich der Gesunden und einen im Reich der Kranken.« Wie also umgehen mit den Zumutungen des Lebens, dem Warten, der Ungewissheit und dem Unerwünschten? Wie umgehen mit der Wut, der Trauer? Mercedes Lauenstein schafft es in »Zuschauen und Winken« der Ohnmacht zu trotzen, indem sie mit warmherzigem und klugem Blick auf das Leben schaut. In unzähligen kleinen Vignetten lässt sie auch den Lesenden viel Raum, den Zauber in den kleinen Momenten zu erkennen. Sie erzählt die Liebesgeschichte zweier Versehrter, denen es trotzdem gelingt, dem Leben ihre Prise Glück abzuringen. »Jeder neue Moment ist ein neues Leben.«

Mercedes Lauenstein stellt im Rahmen des Literaturfests München im Gespräch mit Dana von Suffrin ihren bemerkenswerten Roman vor. Kostenlos auf der »Digitalen Bühne« des Festivals unter www.literaturfest-muenchen.de/digital (2.-11.4.2025)

Alke Müller-Wendlandt

Christine Wunnicke – Wachs (Berenberg)

Kaum zu glauben, dass die Münchner Autorin Christine Wunnicke noch als Geheimtipp gilt. Hat die preisgekrönte Romancière doch längst gezeigt, dass sie auf hohem Niveau und höchst vergnüglich zu erzählen weiß. Mit ihrem neuen historischen Roman „Wachs“ gelingt ihr auf nur 180 detailfreudigen Seiten ein lebendiges Porträt der Aufklärung, in dessen Mittelpunkt die etwas andere Liebesgeschichte zweier Ausnahmefrauen steht. Man schreibt das Jahr 1734: Im vornehmen Pariser Viertel Marais zeichnet Madeleine Basseporte Pflanzen nach der Natur, um deren Innerstes zu studieren. Fürs tägliche Brot unterrichtet die 34-Jährige an einer Zeichenschule florale Ornamente, bis sie als „Blumenmalerin“ ins Naturhistorische Kabinett des Jardin du Roi berufen wird. Ihr Vorgänger verdiente das Doppelte, klagt sie Linné. Marie Biheron, ihre 15-jährige Schülerin, frönt einer noch ausgefalleneren Leidenschaft. Sie seziert Leichen, die sie auf Umwegen zu beschaffen weiß. Ihren Unterhalt bestreitet sie als Wachskünstlerin mit lebensechten Modellen menschlicher Innereien. Mit Freund Diderot diskutiert sie beim Kaffee, schreibt Artikel für die „Enzyklopädie“ und spricht als erste Frau vor der Académie. Aus der Perspektive der 73-jährigen Anatomin lernen wir schließlich auch das dystopische revolutionäre Paris kennen, wo der „Geist der Gesetze“ wenig zählt und Königin Marie-Antoinette gerade unter der Guillotine ihren Kopf verloren hat …
Eveline Petraschka

Christoph Kramer – Das Leben fing im Sommer an (Kiepenheuer & Witsch)

Im WM-Finale 2014 in Rio spielte Christoph Kramer nur eine halbe Stunde – und ist dennoch Fußball Weltmeister. Literarisch debütiert der Ex-Kicker mit einem Coming-of-Age-Roman. Im Wonnesommer 2006 will der 15-jährige Chris Fußballprofi werden, aber er fliegt aus der Fußballakademie. Der pubertierende Teenager sucht nach sich selbst, auf einer Party verknallt er sich kopfüber in seinen Schwarm Debbie. Sie mag ihn auch irgendwie, beide verabreden sich im Hochsommer zum Kino-Rendezvous. Dort küsst Chris das Mädchen, das er seit einem halben Jahr küssen will und hofft, mit ihr eins zu sein. 24 Stunden später sieht Chris, wie Debbie mit einem anderen Jungen knutscht. Seine Welt stürzt ein, die Sterne drehen sich wie in einem Zeitlupen-Karussell gegen den Uhrzeigersinn. Auf 250 Seiten beschreibt Kramer vier Tage aus dem Leben eines Teenagers, erst der Tag des Abiturs vier Jahre später und der Sommer 2014 acht Jahre später sorgen fürs Happy End. Ein Sommermärchen wie eine Hommage an die Magie der ersten Liebe und die Freundschaft, der Soundtrack zum Erwachsenwerden. Fiktion und Realität verschmelzen, wenn Chris glaubt, nach einem Kuss „ein WM-Finale spielen“ zu können. Fast lyrisch vergleicht er die landschaftliche Idylle als „Naturoper mit einem unsichtbaren Dirigenten“. Der Fußballer Kramer spielt einen literarischen Doppelpass, der nicht nur Teenagerherzen höherschlagen lässt.
Wolfgang Scheidt

Laurent Binet – Perspektiven (Rowohlt)

Wer sich nach Florenz sehnt und an laue Abende auf der Piazza denkt, während das elegante süße Leben vorbeiflaniert und zum Mitgenießen einlädt, wird allein schon den Romaneinstieg als Schock empfinden: Der Maler Jacopo da Pontormo, Meister des Manierismus und eben noch mit dem Ausmalen einer Kapelle in San Lorenzo beschäftigt, wird ermordet aufgefunden – erstochen von einem Meißel. Die Medici-Metropole, die so gern Königsresidenz wäre, ist ein Hexenkessel. Die Maler intrigieren gegeneinander. Der mörderisch geniale Goldschmied Cellini hat sein Temperament nicht unter Kontrolle. Vasari leckt die Stiefel des Fürsten und reitet Widersacher ins Verderben. Selbstbewusst störrische Nonnen rebellieren gegen das Kirchen-Patriarchat, Handwerker proben schon mal den Aufstand, eine Medici-Tochter brennt mit einem Pagen durch. Und dann ist ja auch noch ein Verbrechen aufzuklären. Wie der Titel andeutet, gibt es viele Sichtweisen, auf das was geschieht. Die Entdeckung der Perspektive war die Groß-Erfindung der Renaissance. In Binets packend spannendem Krimi spiegelt sich die Mehrdimensionalität in unzähligen Briefen, die immer mehr aufdecken, fokussieren, scharfstellen – und verunklaren. Eine Bildungsreise, die auf dem Sofa beginnen kann.
Rupert Sommer

Thorsten Nagelschmidt – Soledad (S. Fischer)

Es war wohl der besondere Blick eines Jugendlichen im Jahre 1969 in Westberlin, den der fiktive Fotograf Anthony Williams für die Nachwelt eingefangen hat – an den sich die in einer Aussteiger-Lodge im kolumbianischen Dschungel gestrandete Fotografin Alena aus Hamburg erinnert. Sie hat sich gerade von ihrer Lebensgefährtin getrennt, knabbert Beruhigungspillen wie Gummibärchen und trifft hier auf diesen mittlerweile gealterten Blick aus stahlblauen Augen – in Gestalt des deutschen Exilanten Rainer, der mit seiner Familie die Lodge betreibt und schon bald ungefragt Abend für Abend seine abenteuerliche Lebensgeschichte erzählt. Alena, die selbst gerade nicht mehr weiß, wie und wohin es weitergehen soll, wird immer tiefer in Rainers Erzählungen über eine Jugend im Nachkriegsdeutschland und den Ausstieg nach Südamerika hineingezogen. Doch die kriminelle Nachbarschaft und der Beginn einer weltweiten Pandemie bringen schon bald das Leben am anderen Ende der Welt für die kleine Gemeinschaft gehörig durcheinander – und schließlich gilt es, schwierige und essenzielle Entscheidungen zu treffen … Thorsten Nagelschmidt hat hier nach seinem großartigen Berlin- Roman „Arbeit“ ein weiteres Mal bewiesen, dass er nicht nur auf der Bühne mit seiner Band Muff Potter den Nerv der Zuhörerschaft trifft, sondern auch zu den spannendsten deutschen Autoren zählt.
Rainer Germann