Ortsgespräch: Karl Bartos „Ich bin der Musikant mit dem Taschenrechner in der Hand“

Hut ab: KARL BARTOS, Gründungsmitglied von Kraftwerk, erweckt nicht nur Stummfilmstars zu neuem Leben

Herr Bartos, wie kamen Sie denn auf die Idee, sich mit dem „Caligari“ zu befassen?
Lange Geschichte. Vieles hängt eng mit meiner Biografie zusammen.

Erzählen Sie doch mal.
1970 fing ich in Düsseldorf an der Robert Schumann Hochschule an Musik zu studieren – Klavier, Vibraphon und Schlagzeug. 1974 bekam ich einen Anruf: Man brauchte einen klassisch ausgebildeten Schlagzeuger für eine Amerika- Tournee. Einer meiner Professoren vermittelte mich dafür an eine Gruppe.

Kraftwerk?
Exakt. Ralf Hütter und Florian Schneider suchten Unterstützung. Also bin ich mit ihnen in die USA gefahren – und 16 Jahre dabeigeblieben. Um 1977 herum trafen wir den Entschluss, ein Album zu machen, das sich mit der Beziehung Menschen-Maschine auseinandersetzt.

Legende:

KARL BARTOS, geboren 1952 in Marktschellenberg im Berchtesgadener Land, gehörte als Ur-Mitglied von Kraftwerk zu den Pionieren der elektronischen Musik in Deutschland – und rückwirkend betrachtet zu den ersten KI-Vordenkern. Am 15. Februar bringt er live seine Orchestermusik zum Stummfilm-Klassiker „Das Cabinet des Dr. Caligari“ ins Prinzregententheater.

Die Maschinerie setzte sich in Gang.
Es ging immer um den Bezug zu Fritz Langs „Metropolis“. In diesem Zusammenhang fing ich an, mich für die Weimarer Republik zu interessieren. Ich hatte mir dann diverse Bücher vorgenommen – unter anderem „Die dämonische Leinwand“.

Den Klassiker der deutsch-französischen Filmkritikerin Lotte Eisner über den expressionistischen Stummfilm.
Dort tauchte für mich „Caligari“ zum ersten Mal auf. Mit ihm und den schrägen Bildern konnte ich zunächst aber wenig anfangen. Stattdessen haben wir uns Fritz Langs „Metropolis“ vorgenommen – und Popmusik draus gemacht.

Pop?
Passte durchaus. „Metropolis“ selbst hat ja auch eine Musik, eine durchaus stilprägende. Irgendwann ging für mich die Zeit mit Kraftwerk zu Ende. Ich machte dann mit verschiedenen anderen Leuten Musik – Pop in England und anderswo. Dann kehrte ich zurück – für eine Professur an der Universität der Künste in Berlin. Dort geriet ich wieder in die Ideenwelt von Kraftwerk.

Wie?
Ich war ja mitten in der einstigen Weimarer Republik. „Caligari“ wurde am Kurfürstendamm uraufgeführt. Dann bekam ich eine Kopie – und machte eine erste Filmmusik, die so klingt, als hätte ich sie mit Kraftwerk geschaffen.

Großartig!
Allerdings: Das funktionierte so nicht. Wie das? Ich hörte eine andere Musik, als die Bilder, die ich sah. Meine Beschäftigung mit „Caligari“ hielt mich ein paar Jahre lang immer wieder auf Trab – ohne Ergebnis. Vor wenigen Jahren schrieb ich dann meine Autobiografie. Und schon während ich sie fertigstellte, keimte in mir der Gedanke: Jetzt muss ich was anderes machen!

Zurück zum Stummfilm?
Na klar. Ich hatte mich so lange mit den musikhistorischen Entwicklungen befasst, schon landete ich wieder beim „Caligari“. Der Film ist ein Produkt des Jahrhunderts, spielt aber im 19. Jahrhundert,
im Biedermeier. Und geht aber in einem Rückblick noch mal mehr als 100 Jahre zurück: zu Johann Sebastian Bach. Schon war ich wieder angefixt.

Mit welchem Grundgedanken?
Ich wollte eine Musik komponieren, die müsste so klingen wie dieser Zeitrahmen. Mein Plan: eine Musik machen, die alles enthält – von Bach bis Steve Reich.

Schöne Aufgabe.
Ja, aber wenn man Musik studiert hat, dann hat man meistens an einem Tag mit dieser Zeitspanne zu tun. Morgens geht es mit der ersten Opernaufführung los – von Monteverdi. Nachmittags hört man Instrumentkunde. Und abends spielt man „Sacre du printemps“. Die 300 Jahre liegen da oft ganz nah beieinander.

Wie macht man das praktisch, für einen Film zu arbeiten – wie ein Sprecher, der im Synchronstudio vor den Bildern sitzt?
Ein Sprecher hat ja einen Text vorliegen. Ich musste den Text erst erfinden. Mein Plan war: Ich mache das Umgekehrte von dem, was Strawinsky gemacht hat.

Das müssen Sie erklären.
Er hat für seine Ballettmusik, zum Beispiel den „Feuervogel“, Musik komponiert, das Metrum rhythmisiert und sich vorgestellt, wie die Tänzer sich bewegen. Ich mache das anders. Ich nehme den Film als die Ordnung der Bewegung – als eine Choreografie, die ich dann musikalisiert habe.

Trotzdem knifflig.
Dafür habe ich mir die Bilder der Szenen genau angesehen: In welchem Tempo stehen sie? Interessant ist: Der Film hatte einen unglaublich schnellen Schnitt – fast so wie heute. Caligari ist die lebendig gewordene Synkope. Er geht so schräg. Für mich transportiert er seine innere Zerrissenheit oder den Wahnsinn. Toll, das in Klänge zu setzen.

Was macht für Sie Komponieren aus?
Es geht ums Hören, Spielen, Fühlen und Denken. Das Denken und Verstehen ist auch sehr wichtig – schon bei Kraftwerk.

Wenn man sich das Konzept Mensch-Maschine und Ihr Spiel mit den Überschneidungsbereichen noch mal in Erinnerung ruft: Da muss ja die heutige Diskussion rund um Künstliche Intelligenz für Sie wie ein alter Hut wirken?
Na klar: Die KI ist ein Kopilot, den wir schon lange benutzen. Das Hauptproblem ist der Diebstahl.

Wie genau?
Ohne jemanden zu fragen, schon gar nicht die Künstler, haben sich die KI Unternehmen das gesamte Material der Menschheit zum Trainieren angeeignet. Auch alle Musik, die irgendwo mal gespielt wurde, ist bereits digitalisiert. Und an jeder Straßenecke hängt eine Kamera. Aber was Google und die anderen nicht digitalisieren können, sind unsere Gefühle.

Klingt tröstlich – noch.
Eine Maschine hat keine Gefühle. Sie kann nur so tun, als ob sie welche hat. Ich mache ständige Fehler, und es gibt auch Dinge, die ich bereue. Das menschliche Bewusstsein mit der Möglichkeit, Dinge zu fühlen, ist doch zum Glück einmalig.

Wie war das bei Kraftwerk?
Wir haben das Studio, unser Arbeitszimmer, das Musikstudium – all das haben wir als Maschine wahrgenommen. Und uns selber als Menschen. Wir fusionieren, indem wir die Maschinen bedienen. Ich bin der Musikant mit dem Taschenrechner in der Hand!


Interview: Rupert Sommer