Die guten Amerikaner: Bruce Springsteen & The E Street Band werden von ihren Fans im ausverkauften Olympiastadion gefeiert.
Ein wenig schaut es aus wie bei einem Veteranentreffen mit der deutschen und amerikanischen Landesflagge links und rechts von der Bühne, und, klar, das ist es ja auch ein bisschen. „The Boss“ ist seit sechs Jahren wieder mal in der Stadt, zusammen mit seiner E Street Band. Wie mag sich dieser 74jährige Mann aus New Jersey fühlen, der wie kein Zweiter das gute, demokratische Gewissen Amerikas verkörpert, wenn er die Nachrichten anschaltet und sieht wie sein Land verbrennt, Schusswaffen und Rassismus immer noch allgegenwärtig sind, seine Landsleute vielerorts im Opioid-Sumpf versinken und/oder rechten Demagogen wie DeSantis und Trump hinterherlaufen? Wenn schlecht, dann ist es ihm vorerst nicht anzusehen: Um kurz vor 19 Uhr schlendern Pianist Roy Bittan, Bassist Garry Talent, Schlagzeuger Max Weinberg, die Gitarristen Nils Lofgren und Stevie Van Zandt, Geigerin Soozie Tyrell, Organist Charles Giordino und Saxophonist Jake Clemons gefolgt von einem bestens gelaunten Springsteen unter „Bruce, Bruce“-Rufen auf die schlicht gehaltene Bühne, unterstützt wird die Stammformation (leider ohne Patti Scialfa) von drei Backgroundsängerinnen, einem Perkussionisten und einer Horn-Sektion. Mit „No Surrender“ wird die Richtung für das erste Konzertdrittel musikalisch wie auch thematisch schon mal vorgegeben: Kein Zurück, Baby, nie aufgeben! Die Band ähnelt einer anfangs noch etwas schwerfälligen Dampflokomotive, die immer mehr in Fahrt kommt, wobei wir schon beim ersten uramerikanischen Motiv sind. Nach dem Gitarrenrequiem „Ghosts“, das mit viel „La-la-la-la, la-la, la, la, la“ zum ersten Mal die Stimmbänder des jetzt schon schwer begeisterten Publikums prüft, entführt Bruce mit den Anfangszeilen „I‘ve been working real hard, trying to get my hands clean, we‘ll drive that dusty road from Monroe to Angeline“ in seinen von Rock’n’Roll-Romantik und Working Class Hero-Träumen bevölkerten Kosmos, den er auch in seiner Biografie „Born To Run“ anhand eigener Jugenderinnerungen hinlänglich beschreibt. „Prove All Night“ ist ein früher Höhepunkt, die Band stampft jetzt Max Weinbergs Snare Drum-Punch hinterher, früher musste der Mann schon mal durch Plexiglasscheiben akustisch vom Rest der Truppe getrennt werden, das ist heute nicht mehr nötig. Wer geglaubt hat, wie der Autor, Springsteen könne seiner Telecaster nur Riffs entlocken, sollte staunen: Der Mann spielt auch im weiteren Verlauf des Konzerts irrwitzig gute, teils in Sound und Melodie schräg überdrehte Soli, null Mainstream, Respekt. Die E-Street-Lok dampft weiter durchs „The Promised Land“, spätestens jetzt sind wir alle Amerikaner, auch die vielen Kinder, die mit Schutzkopfhörern auf Schultern sitzen und von einem sichtlich begeisterten Boss mit Plektrums und Autogrammen beschenkt werden. Von der Tatsache, dass Springsteen ein Star zum Anfassen ist wird in den ersten Reihen reichlich Gebrauch gemacht, wahrscheinlich ist er der einzige Rockstar, der Stadien füllt, dem der Ruhm, zumindest augenscheinlich, nicht völlig zu Kopf gestiegen ist.
Mit „Kitty’s Back“ rollt die Party Richtung New Orleans, bei dem fast viertelstündigen Ragtime-Jazz-Boogie können jetzt auch die Bläser (Posaune, Bass- und Bariton-Sax, Trompete) mal zeigen, was sie so drauf haben. Leider wirkt Springsteens Stimme (zumindest auf der Haupttribüne) mittlerweile ein bisschen matt nach dem Dauerfeuer der E Street Band, trotz Bemühungen kann er mit dem schwachen Commodores-Cover „Nightshift“ im Gegensatz zu seinen tollen Backgroundsängerinnen wenig überzeugen. Klar, der Mann steht am Ende einer dreimonatigen Tour, nach München kommt noch Monza, dann geht es zurück in die Staaten. Doch der Boss ist ein Profi und somit rettet er sich mit einer knackigen Version des Rock’n’Roll-Kraches „Johnny 99“ vom minimalistischen Album „Nebraska“ über die Runden. Eine Gänsehaut-Version von „The River“ beschwört einen weiteren amerikanische Mythos und dann wird’s ganz still im Stadion: Springsteen erzählt von seiner letzten Begegnung mit dem Freund George Theiss 2018, der kurz darauf an Krebs starb. Er sei jetzt „The Last Man Standing“ seiner allerersten Band The Castiles, der er als 15-Jähriger beigetreten war. Eine schöne und zugleich traurige Geschichte, und ein Beispiel dafür, warum der Mann es schafft, wie hier, auch nur mit seiner Stimme und einer Gitarre seit 50 Jahren die Menschen zu berühren. Doch jetzt wird weitergefeiert: „Backstreets“ kommt wie ein Scorsese-Film angerauscht, beim von Springsteen mitkomponierten Patti Smith-Cover „Because The Night“ gibt es kein Halten mehr, jetzt ist klar, dass die Nacht den Liebenden gehört und, ja, alle lieben sich. Nils Lofgren spielt dazu das beste Gitarrensolo des Abends, ein Fest, dem nur mit den Fingern pickenden 72jährigen Virtuosen zuzusehen, auch der Chef ist schwer beeindruckt, wie man auf den Screens gut sehen kann. Mit „She’s The One“, „Wrecking Ball“, „The Rising“ und viel Shalalala biegt die Band in die Schlussgerade ein, „Badlands“ dann wieder im Gänsehautbereich, kleine Comedy-Einlage von Stevie van Zandt und Springsteen, alberne alte weiße Männer, aber gerne.
Die Zugaben wieder im Partymodus, Bruce wieder besser bei Stimme, der Bürgermeister tanzt wie alle auf den Tribünen, „Born To Run“, „Bobby Jean“„Glory Days“, nach „Dancing In The Dark“ wird die Band vorgestellt. Den Schlussakkord setzt Bruce Springsteen wieder solo und akustisch mit der ebenfalls George Theiss gewidmeten Ballade „I’ll See You In My Dreams“ – ein bewegendes Ende eines abwechslungsreichen, fast dreistündigen Konzerts mit dem großen amerikanischen Geschichtenerzähler und seiner E Street Band, mit der er seit 50 Jahren auf der Bühne steht. Nochmal: Respekt.
Autor: Rainer Germann