Chrissie Hynde beweist mit ihren Pretenders in der Muffathalle, dass sie wohl die letzte große Rock’n’Roll-Sängerin ihrer Generation ist
Schätze, spätestens bei „Your private life drama, baby leave me out“ haben wohl die Hälfte der männlichen, sich im frühen Rentenalter befindlichen Zuhörer an Sex gedacht – nicht mit der Sängerin, die seit bereits rund zehn Songs auf der Bühne steht, nein, endlich überhaupt mal wieder. Als akustisches Viagra schleicht sich Chrissie Hyndes angeraute Rothändle-Stimme in den Unterleib, obwohl sie eigentlich gar nicht bei Stimme ist, wie sie lachend versichert. Ok, wenn das „nicht bei Stimme ist“, dürfen viele andere einpacken: die jungen Nachgeborenen, die oft Arenen füllen und die mittlerweile Vergessenen ihrer eigenen Generation. Ausnahmen sind die ebenfalls mit Charakterstimmen ausgestatteten Stevie Nicks und Debbie Harry – erstere hat gerade einen fast schon düsteren neuen Song namens „The Lighthouse“ veröffentlicht; Harry tourt immer noch fleißig mit einer ebenfalls verjüngten Blondie-Band.
Chrissie Hynde ist eine Überlebende: bereits im Höhenflug der durch Punk und New Wave beflügelten Karriere ihrer Band The Pretenders Anfang der 1980er, musste sie den Heroin/Kokain-Überdosistod ihrer Mitmusiker James Honeyman-Scott und Pete Farndon beklagen; was danach folgte, war ein Leben auf der Überholspur, auch als Ehefrau von Idolen wie Ray Davies und Bleichgesichtern wie Jim Kerr; ihre Duette mit Cher und UB 40 vergeben und vergessen, als Animal Rights-Aktivistin wurde sie fast schon mal eingesperrt, mit einem wunderbaren Jazz-Album mit Dub-Elementen hat sie sich vor ein paar Jahren, zumindest beim Autor, wieder ins akustische Gedächtnis gerufen. Seit einiger Zeit gibt es auch hin und wieder ein neues Pretenders-Album mit bis auf Gitarrist und Co-Songwriter James Walbourne wechselnder Besetzung. Und jetzt, beim zweiten Anlauf, ist sie endlich wieder da, in der fast ausverkauften Muffathalle.
Los ging es mit dem auf besonderen Wunsch der Sängerin eingeladenen Schlagzeug/Gitarren-Duo Picturebooks aus Gütersloh, das mit einem Depeche-Mode-Cover und breitbeinigem Riffrock die bereits ordentlich gefüllte Halle zum Mitwippen brachte. Ein Weg in die vorderen Reihen, zum Zwecke der visuellen Bildgestaltung dieser Review, stellte sich als fast schon gefährliches Unterfangen dar; zum Teil äußerst schwergewichtige Besucher*innen, denen das Prinzip der freien Platzwahl bei Stehkonzerten entweder in der Altersdemenz abhanden gekommen ist, oder die einfach Deppen (m/w/d) sind, verteidigten wortgewaltig mit Ellenbogeneinsatz das eroberte Habitat – „my generation, fuck off“ könnte der Name für einen neue Kolumne sein, so was wie „hundert Zeilen Hass“, damals im Magazin Tempo.
Derweil entert Chrissie die Bühne, 72, schwarze Overknees, enge Jeans, luftiges Top, nach der dritten Nummer schwarzes Rock-T-Shirt, schnallt sich die Gitarre um und tritt dem brav jubelnden Altersheim zusammen mit ihrer juvenilen Band (aktuell Kris Sonne (dr), Dave Page am Bass) um Gitarren-Derwisch Walbourne gleich mal mit rockigen Songs wie „Losing My Sense Of Taste“ und „A Love“ vom aktuellen Album „Relentless“ kräftig in den Arsch. Vor allem letzterer könnte ohne weiteres auch vom Bruder im Geiste Tom Petty sein, auch schon tot. „See you duck and dive/So you don’t get hit/That’s how you stay alive/But just a little bit“, zischt sie in der folgenden, als Song unterschätzten, Spielerhymne „Turf Accountant Daddy“, oh ja. Mit „Talk Of The Town“ vom zweiten Album und dem unvergesslichen Anfangsriff von „Kid“ kommt Bewegung ins Publikum; „Hate For Sale“, vom gleichnamigen 2020 veröffentlichen Album, beweist, dass Punkrock’n’Roll auch heute noch aufregend klingen kann, wenn eine Band nicht in Rockismus abdriftet. Obwohl, zugegeben, auch an diesem Abend das ein oder andere Solo schon mal kurz in diese Richtung ging.
Der Sound, vorne bescheiden, weiter hinten rund um das Mischpult schön laut und druckvoll. Widmungen für John Fogerty und den ebenfalls verstorbenen Johnny Thunders („one of my favourite guitar player“) folgen, „The Buzz“ und „My City Was Gone“ sicher im Groove, bevor mit der formidabel angekratzt gesungenen Ballade „Can’t Hurt A Fool“ ein von Chrissie Hyndes Stimme und Walbournes zum Teil infernalischen Gitarrenspiel dominierter, hitstrotzender Mittelteil des Konzerts eingeläutet wurde: Gerne hätte man einem Coldplay-BWLer erklärt, dass „Woawowow“ als Hook nicht nur einen Kindergeburtstag untermalen, sondern bei „Back On The Chain Gang“, auch direkt in den Knast führen kann. Dass die Bayern3-Hymne „Don’t Get Me Wrong“ mit wunderbarem Drive glänzt, war kein Wunder, der bereits erwähnte Fremdgeh-Reggae „Private Life“ ein weiterer Höhepunkt, die Band hat’s einfach drauf. Mit „Biker“ erinnert sich Hynde an frühe Jugendjahre als Rockerbraut, im Netz kann man dazu enthüllende Geständnisse lesen, die dem Stück nochmal eine neue Intensität verleihen. „Junkie Walk“ und eine furioses „Precious“ leiten zusammen mit „Let The Sun Come In“ das Finale ein, das mit der Zugabe „Middle Of The Road“ das Konzert beendet. Als Abspannmusik „All Tomorrows Parties“ von den Velvets – gerne, gerne wieder.
Diese kongeniale Mischung aus schnell gespieltem Rock’n’Roll, Pubrock, New Wave, Punk und Reggae der Pretenders trifft auch 44 Jahre nach dem Debütalbum noch mitten ins Herz – und ja, auch in den Bauch und darunter. Ach, Chrissie – wären nur alle deine Fans so cool wie du und deine Jungs. Aber solange „Your private life drama baby leave me out“ noch so klingt, ist noch nichts verloren.