Der Filmtipp: „Emilia Pérez“ von Jacques Audiard

Marco Schmidt über „Emilia Pérez“ von Jacques Audiard in unserem Filmtipp des Monats. Ab 28.11. im Kino.

Mit Filmen wie „Ein Prophet“ oder „Der Geschmack von Rost und Knochen“ hat uns der französische Drehbuchautor und Regisseur Jacques Audiard unvergessliche Kinostunden beschert – und sich dabei immer wieder neu erfunden. Auch jetzt, als 72-Jähriger, wirkt der Altmeister neugieriger, wagemutiger und experimentierfreudiger als viele Jungspunde: Mit „Emilia Pérez“ präsentiert er ein vogelwildes, in der Filmgeschichte beispielloses Meisterwerk.

Die Handlung spielt in Mexiko, einem Land im Würgegriff der Drogenmafia, die fast alle Bereiche von Politik und Justiz unter ihre Kontrolle gebracht hat und jährlich Zehntausende Menschen spurlos verschwinden lässt. Im Mittelpunkt des Geschehens steht die frustrierte Rechtsanwältin Rita, die ihr Geld damit verdient, Drogenbarone, Frauenmörder und andere Verbrecher zu verteidigen. Eines Tages macht ihr der berüchtigte Kartellboss Manitas del Monte ein verlockendes Angebot: Er eröffnet ihr, er habe sich zeit seines Lebens als Frau gefühlt, und Rita solle nun seine geschlechtsangleichende Operation organisieren, seine Ermordung vortäuschen und seine nicht eingeweihte Gattin Jessi sowie seine beiden Kinder in Sicherheit bringen. Jahre später lebt Manitas als Frau, nennt sich Emilia Pérez und will, wieder mit Ritas Hilfe, erstens die Kinder wiedersehen und zweitens einstige monströse Missetaten wiedergutmachen. Das wirft interessante Fragen auf: Lässt sich der Charakter eines Menschen durch die Transformation seines Körpers ändern? Kann ein brutaler Drogenboss so quasi vom Saulus zur Paula werden? Oder bleibt ein Wolf immer ein Wolf?

All das wäre an sich schon schräg genug, doch nun halten Sie sich fest: Audiard verpackt diese knallharte Geschichte über Kokain-Kartelle und Korruption, Schuld und Sühne, Machismo und Massenmord in eine mitreißende Mischung aus Mafiathriller, Melodram und Musical. Ja, richtig gelesen: Musical! Der französische Nouvelle-Chanson-Star Camille und ihr Lebensgefährte Clément Ducol haben in enger Absprache mit Audiard Songs geschrieben, die stets die Handlung vorantreiben und völlig organisch ins Geschehen eingewoben sind – sie entwickeln sich fast unmerklich aus Spielszenen, wenn sich etwa Geräusche allmählich in einen Rhythmus verwandeln. Das erzeugt eine sagenhafte Spannung: Nie weiß man, ob im nächsten Moment eine Messerattacke oder eine Musiknummer folgt – oder beides.

Für seine wie immer vielschichtigen Hauptfiguren hat Audiard eine multitalentierte Idealbesetzung gefunden: Die spanische Transfrau Karla Sofía Gascón fasziniert in ihrer Doppelrolle als Manitas und Emilia; Selena Gomez lässt hinter Jessis leicht vulgärer Fassade stets eine verletzliche Seele durchschimmern, und Zoe Saldaña, die der toughen Anwältin Rita eine anrührende Menschlichkeit verleiht, explodiert geradezu in ihren furiosen Gesangs- und Tanznummern. Dass dieser gnadenlos gewagte Genremix so grandios geglückt ist, dass die Übergänge zwischen gesprochenen Dialogen und gesungener oder gerappter Poesie so elegant gelingen, dass das packende Geschehen durch die Songs nicht verwässert wird, sondern sogar noch an Wucht und tragischer Tiefe gewinnt, ist eines jener Kino-Wunder, die nur alle paar Jahre geschehen.

Marco Schmidt