Mit der Schließung der Pizzeria und Weinbar L’Assaggino in der Fraunhoferstraße nach 29 Jahren stirbt auch ein Stück Glockenbach-/Gärtnerplatzviertel – Ein Nachruf
Komisch, wo ist die Zeit geblieben? Beziehungsweise – hatte man so viel davon? Anscheinend schon, zumindest der Autor dieser Zeilen, als er Anfang/Mitte der 1990er Jahre den ersten Espresso in Salvatore Cavallos Lokalität in der Fraunhoferstraße zu sich genommen hat – bei „Salvo“ wie die kleine Weinbar und Pizzeria L’Assaggino in unmittelbarer Nachbarschaft schon bald von Stammgästen kurzum genannt wurde. Fast jeden Tag traf man sich damals bereits mittags, um bei Espresso und auch mal Spumante den Lauf der Zeit/Welt zu besprechen. Tempi passati.
Anfangs sehr schlicht, aber mit einer Feinkostvitrine, später bis zum Finale immer noch eher unprätentiös mit selbstgebauten hölzernen Stehtischen und einer kleinen Bar eingerichtet, verstand es der aus dem kalabrischen Corigliano stammende Inhaber Salvatore, mit einem Italien, das weder mit den Hochglanzbroschüren der Reisebüros, noch mit der in München romantisch verklärten Toskana-Fraktion etwas zu tun hatte, seine Stammgäste (die in den letzten 29 Jahren doch immer in wechselnder Belegschaft wohl 70 Prozent ausmachten) mittels einer unvergleichlichen Pizza, fair bepreisten und gut ausgesuchten Weinen und persönlichen Gesprächen mitten ins Herz zu treffen – Süditalien wurde hier greif- und erlebbar. Der in Bologna sozialisierte und über Oberhausen nach München gekommene Wirt trat bereits mit einer Spenden-Aktion für Erdbebenopfer in Italien Anfang der 1980er im Verbund u.a. mit Wolfgang Nöth und Fraunhofer-Wirt Beppi Bachmaier in Erscheinung, dass er dann 1994 neben dem Fraunhofer seine Pizzeria/Weinbar eröffnete, war irgendwie Schicksal.
Schon bald tummelte sich neben den trinkfreudigen Mittagsgästen (wir sind immer noch in den Neunzigern!) eine illustre Kund- und Gesellschaft (m/w/d): Erzieherinnen, Richterinnen und Hausfrauen, Anwälte, Architekten und Handwerker, Buchhändler und Kinobetreiber, Musiker, Maler und andere (Lebens-)Künstler, Taxifahrer, Gastronomen und alle Sorten von Geschäftsleuten– bei Salvo waren alle willkommen, am besten, das getroffene Herz schlug wie beim Inhaber eher links wie rechts und konnte noch eine Spur Anarchismus aufweisen – ein letztes Aufbäumen in einem sich mit rasender Geschwindigkeit verändernden und gentrifizierten In-Viertel. Schon bald entstand hier eine Insel, ein Ort, der spätestens in den 2010er Jahren auch zu einem sozialen Biotop wuchs – als Rückzugsort einer entfesselten und gierigen Gesellschaft und auch Gastronomie, die immer mehr Einzug hielt rund um Gärtnerplatz und Glockenbach.
Bis zuletzt kostete hier die Pizza ab 8,50 Euro und die günstigste Flasche Wein 20 Euro. Und was für eine Pizza – eine perfekte Symbiose aus bestem Hefeteig, nicht zum Wagenrad geformt, trotzdem schön dünn, schmackhaftem Käse und einer formidablen Tomatensoße, bot die perfekte Grundlage für den individuellen Belag – die Auswahl auf der handgeschriebenen Tafel war nur eine Richtlinie, die Regulars hatten schon bald ihre eigene Pizza „Tommy“, „Peter“ oder „Conny“, ein Wunder, wie sich Salvo das alles merken konnte. Dazu kamen drei bis vier wechselnde Pasta-Gerichte und ein paar Antipasti – fertig.
Im Hintergrund lief immer beste Musik: Paolo Conte war hier bereits Gott, bevor man in Schwabing wusste, dass das kein Winzer ist; Lucio Dalla wurde tagelang in Dauerrotation betrauert als er 2012 verstarb, aber auch Miles Davis und Chet Baker, Cat Power, Lou Reed und ein gewisser Jesper Munk, der hier aufgrund direkter Nachbarschaft und Verwandtschaft mit dem Autor praktisch aufgewachsen ist, waren der Soundtrack zu „vino, pasta, pizza e musica“. In den 00er Jahren war jeden Freitagabend Party – nicht nur zum Wohl des Inhabers hat sich das Ganze in den letzten Jahren beruhigt.
In letzter Zeit war der jahrelang angekündigte Abschied schon deutlich zu spüren – Corona setzte dazu einen lange nachklingenden Schlussakkord. In alleiniger Regie, ohne Koch, betrieb Salvo bis zuletzt seinen Laden – das stresst. Ein kleines Häuschen in Ligurien lockt zu neuen Abenteuern, vielleicht mit Weinanbau, mal sehen, meint Salvo. Alles Gute dafür und Danke für eine tolle Zeit, die beste Pizza und schöne Stunden – mit der Schließung der Pizzeria und Weinbar L’Assaggino in der Fraunhoferstraße stirbt in jedem Fall auch ein Stück Glockenbach/Gärtnerplatzviertel – wie es (vielleicht) einmal war und nie wieder sein wird. Grazie mille, arrivederci.
Rainer Germann