Charmanter Chronist der Künstler-Bohème: Anatol Regnier wuchs umgeben von ganz Großen auf – ohne sich einschüchtern zu lassen
Herr Regnier, der Titel Ihres neuen Buches „Erinnerungen eines Taugenichts“ lässt stutzen. Eine Verbeugung vor Joseph von Eichendorff oder inwieweit sehen Sie sich als „Taugenichts“?
Ein bisschen schon.
Wirklich?
Ich habe nichts anzubieten. Ich bin nicht wie viele andere, die ihre Autobiografie schreiben.
Wie meinen Sie das?
Diese Leute schreiben dann oft, dass sie aus schwierigen Verhältnissen kommen, alles Mögliche erlebt haben. Und dass es ihnen zwischenzeitlich schlecht ging im Leben. Mir ging es eben nicht schlecht, ich hatte alles.
Groß, wenn man das so sehen kann.
Ich wuchs in einem beschützten Haushalt auf. Und ich lebte sehr lange eben so in den Tag hinein. Eigentlich hatte ich nur einen Wunsch: Gitarre zu spielen.
Jetzt geben Sie sich ein sehr bisschen bescheiden. Sie sind ja auch ein sehr erfolgreicher Gitarrist. Aber die Liebe zur Gitarre war nicht immer wechselseitig. Wie kommt das?
Es ist eine Frage der Disposition. Um so ein Instrument auf dem höchsten Niveau zu spielen, braucht es alle möglichen Voraussetzungen – schon alleine physikalischer Art. Etwa wie die Hände gebaut sind, wie die Knochenstruktur ist, wie Ihre Reflexe funktionieren. Wenn man auf hohem Niveau Fußball spielt: Auch da muss alles stimmen. Das kann nicht jeder.
Anatol Regnier (Jahrgang 1945) wuchs als Enkel von Frank Wedekind und Sohn von Pamela Wedekind und Charles Regnier in einem Schriftsteller- und Schauspieler-Haushalt am Starnberger See auf, in dem Weltstars wie Erika und Klaus Mann oder Gustaf Gründgens ein und aus gingen. Er wählte zunächst die Musik. Erst mit 52 Jahren fing er mit Büchern an – mit großem Erfolg. Aus „Jeder schreibt für sich allein“ machte Regisseur Dominik Graf einen Dokumentarfilm. „Erinnerungen eines Taugenichts“ (btb) stellt Regnier am 4. November im Literaturhaus vor.
Allerdings haben Sie sich nicht davon bremsen lassen: Mussten Sie sich stärker quälen mit der Konzert-Gitarre?
Kann man so sagen. Ich bin so weit gekommen, wie ich konnte. Und Gott sei Dank: Als ich merkte, dass ich nicht vom Fleck kommen werde, auch wenn ich noch 20 Jahre übe, habe ich durch einen glücklichen Zufall die Möglichkeit für mich entdeckt, Bücher zu schreiben.
Vermutlich ist das Bücherschreiben in einem so literarisch geprägten Haushalt wie der, in dem Sie aufwuchsen, ja auch keine völlig neue Erfindung. Warum hat das so lange gedauert, bis Sie damit anfingen: Waren Sie vielleicht ein bisschen eingeschüchtert durch den Großvater?
Nein, überhaupt nicht. Dass er Frank Wedekind heißt, damit hatte ich gar keine Probleme. Ich habe eine Zeit lang mein Geld mit dem Gitarrenspielen und mit Gitarre-Unterrichten verdient. Ich war zehn Jahre mit meiner Familie in Australien. Dort haben wir nur von meiner Musik gelebt. Aber durch einen glücklichen Zufall machte ich in Sydney die Bekanntschaft zweier jüdischer Holocaust-Überlebender – am anderen Ende der Welt, deren Geschichten habe ich aufgeschrieben – so entstand mein erstes Buch. Erst dann habe ich gemerkt: Mensch, das kann ich ja!
Auch im neuen Buch stehen viele Namen, die andere nur aus Schulbüchern kennen.
Das ist schon wahr. Aber erstmal ging es mir um ganz andere Geschichten, mit denen ich persönlich gar nichts zu tun hatte. Erst später beschäftigte ich mich erstmalig mit meiner Familie: Zunächst mit meiner Großmutter Tilly und meiner Mutter Pamela Wedekind. Und mit meiner Tante. Plötzlich kamen alle möglichen anderen Leute mit ins Spiel: Erika und Klaus Mann, Gottfried Benn und weitere Künstler-Persönlichkeiten, die man tatsächlich nur aus Schulbüchern kennt. Danach habe ich eine große Biografie über meinen Großvater Frank Wedekind geschrieben.
Wenn man im neuen Buch über Ihre Starnberger Zeit und das Schwabing der Nachkriegszeit all die bekannten Namen liest: Hatten Sie denn keine Scheu, über solche Leute zu schreiben, die ja auch in der Öffentlichkeit standen?
Nein, gar nicht. Zum Beispiel Gustaf Gründgens oder Erika Mann, aber auch viele andere wie der Schauspieler und Regisseur Fritz Kortner waren in meiner Jugend so präsent, dass sie fast zur Familie gehörten. Die meisten habe ich oft gesehen: Gründgens ein bisschen öfter, Therese Giehse auch. Das war für uns normal. Ich habe mir keine Gedanken gemacht deswegen.
Gründgens war ja nicht nur umstritten, er war ja auch von der Statur her eine Erscheinung. Eine Begegnung mit ihm dürfte doch nicht dasselbe gewesen sein, wie wenn der Briefträger um die Ecke kam?
Gründgens konnte total normal sein. Im neuen Buch erzähle ich eine Geschichte, als wir im Schwimmbad sind und einen Wettkampf anschauen. Ohne großen Auftritt. Aber wenn er den Bühnen-Modus angeworfen hat, hat es rund um ihn auf einmal geglänzt und gefunkelt.
Tischgespräche in einer Schauspieler-Familie stellt man sich ja gar nicht so einfach vor: Ging es dann immer im ernsten Ton um wichtige und getragene Sachen?
So habe ich das nicht erlebt. Allerdings: Das deutliche Sprechen haben wir von unserer Mutter gelernt. Darauf hat sie sehr geachtet. Aber bei uns zu Tisch ging’s locker zu.
Sie haben Ihre Kindheit privilegiert genannt, auch wenn es im Haus in St. Heinrich oft eng gewesen sein muss: War es von Vorteil, damals auf dem Land zu sein – und nicht im zerbombten München?
Das Leben am Starnberger See war ein bisschen heiterer – auch in ernsten und ärmlicheren Zeiten. Als Kinder waren wir oft in der Stadt. Eine ganz andere Welt: Die Leopoldstraße von damals war trotzdem schon wieder recht lebendig. Heute steht es um sie leider ganz anders – nur noch mit irgendwelchen Ketten-Cafés und Boutiquen.
Eher seelenlos.
Natürlich waren viele Häuser kaputt. Als Kinder kannten wir München gar nicht anders. Nach und nach wurde es wieder aufgebaut. Aber das war keine wirkliche Verbesserung.
Wie meinen Sie das?
Mit dem Wiederaufbau kam die Schwere der 50er-Jahre – und das schlechte Gewissen, das über dem Land lag. Was genau passiert war, konnte ich damals gedanklich noch nicht fassen. Es war aber doch eine ungute atmosphärische Schwingung.
Vor allem in den Schulkapiteln in Ihrem neuen Buch hört man klar Misstrauen heraus – gegenüber Menschen, deren Biografie auf jeden Fall nicht eindeutig klar war und die ihre eigene Rolle in der Nazi-Zeit vertuschten.
Das Gefühl des Unbehagens war in meiner Jugend allgegenwärtig. Selbst als Kind spürte man: Irgendwas stimmt hier nicht. Später habe ich dem dann genauer nachgespürt – immer wieder.
Ab wann hatten Sie genug Abstand oder Überblick, um die Verlogenheit und das Zurechtbiegen der Nazi-Zeit benennen zu können?
Als ich mit 16 Jahren nach London kam. Dort habe ich jüdische Jugendliche meines Alters kennengelernt. Und erst da wurde mir im Detail klar, dass der Holocaust tatsächlich stattgefunden hat. Und zwar in der Lebenszeit meiner Eltern und bei allen Erwachsenen aus meiner Kindheit.
Sie schildern eindrucksvoll das Schwabing der Nachkriegszeit. Wie stark war dabei auch der Wunsch, noch einmal an dieses ja doch fast legendäre Schwabing der Künstler-Bohème anzuknüpfen?
Schwabing versuchte ja wieder aufzuleben in den Jahren nach dem Krieg. Aber leider gelang das nicht allzu lange.
Wie fühlen Sie sich denn heute, wenn Sie über den Wedekindplatz gehen?
Das ist nicht mehr dasselbe Schwabing! Frank Wedekind ist noch ein sehr bekannter Name, er wird ja auch als Schullektüre behandelt. Aber das legendäre Schwabing liegt doch schon sehr, sehr weit zurück. Es lebt nur noch in den Geschichtsbüchern.
Sie haben sich immer wieder bemüht, dieses Schwabing auch in Ihren Büchern lebendig zu halten.
Es existierte ja noch in meiner Kindheit. Ich kam mit Leuten in Berührung, die kannten Ringelnatz oder Thomas Mann. Es gab einen Hauch der Zusammengehörigkeit von damals, wie man ihn aus den Salons kannte.
Fehlt nicht heute vor allem auch eine Kultur der Geselligkeit, wie Sie es ja nicht zuletzt im Haus am Starnberger See beschreiben: Voller kluger Menschen, die sich unterhalten?
Das ist leider das Hauptproblem der heutigen Zeit: Es ist eine Zeit der Vereinzelung, in der man wenig direkt miteinander kommuniziert. Ich bin jedes Mal froh, wenn es irgendwo eine Gesprächsrunde gibt, wo man sich was erzählt und wo man so viel mehr von den Menschen erfährt.
Dieser Geist springt hoffentlich über, wenn Sie Ihr neues Buch auf der Lesung vorstellen?
Ich bin sehr gespannt darauf. Lesungen sind für mich immer ein Anlass zur Freude. Ich tausche mich gern mit Menschen aus.