30.10.2024
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Rainer Germann
Neue Bücher von Eckhard Nickel, Matias Faldbakken, Hape Kerkeling und Lea Ruckpaul
Eckardt Nickel – Punk (Piper)
Vielleicht ist ja genau das die Mir-doch-egal- Haltung, die man stilvoll kultivieren muss, wenn der „No Future“-Zustand, der zuvor so frech herbei geplärrt worden war, dann eingetreten ist. Es herrscht eine merkwürdig aseptische Stille im dystopischen Nirgendwo der Großstadtlandschaft. Es gibt eine Lebensmittel-, vor allem Luxusgüter-Knappheit. Und über den grauen Straßen liegt eine seltsame Schallschluck-Glocke des „White Noise“-Phänomens, das jegliche Musikverbreitung unterbindet. Staatlich gesteuert? Perfider Terror? Nicht ganz klar. Wie so vieles im neuen „Punk“-Roman von Eckhart Nickel, der damit den fein gewobenen Zwirn aufgreift, den er schon durch seinen Vorgängerroman „Spitzweg“ gesponnen hatte. Wieder einmal ist auf den ersten Blick alles Äußerlichkeit im Beschreibungswahn des früheren „Tristesse Royale“-Mitglieds, der einst mit Schnöselgenossen wie Benjamin von Stuckrad-Barre oder Christian Kracht die biedere bundesdeutsche Wirklichkeit hinter sich lassen wollte, um auf popliterarische Höhenkämme zu steigen. Nun also das Projekt Punk statt Pop – oder zumindest das, was man mit pomadisiertem Haar dafür hält. Was später ganz viel werden möchte, beginnt eigentlich als schnödes Vorstellungsgespräch: Karen läutet bei den besäuselten Freunden Lambert und Ezra, die eigentlich ein WG-Zimmer zu vergeben haben, an ihre Entscheidung aber einen ausgefeilten Prüfungs- und Sympathietest-Marathon knüpfen. Mit ihrer Spontanität erinnert Karen die Jungs, die sicher auch mal „Spex“ gelesen haben, an den Instant-Künstler Andy Warhol. Denn natürlich geht es nicht nur um einen Schlafplatz, sondern um Kunst: ein Band-Projekt, bei dem zumindest der Name für die Combo von vornherein feststellt: „Punk“. Karen jagt mit ihren neuen Verehrern durch ein Dickicht der Anspielungen – auf guten Geschmack jeglicher Disziplin. Und natürlich hoppelt dann auch ein wundersames Kaninchen durchs Bild. Man schlürft den letzten Schampus aus geheimen Weinkeller-Verstecken. Bis dann doch eine Wendung eintritt, mit der der Mal-so-tun-als-ob-Roman wie gegen eine Mauer prallt. Das ersehnte Vorsingen! Nickels exzessive Referenzlust macht gute Laune, entlässt die Leser dann aber doch – ins Leere. Humor hat er. Punk dagegen bleibt Pose, Look und Attitüde. Und das trotz einer eklektischen Playlist zum Buch – von Devo über Gang of Four bis Young Marble Giants.
Rupert Sommer
Matias Faldbakken – Armes Ding (btb)
Obwohl sich nicht nur durch den Titel Gemeinsamkeiten aufdrängen: Im norwegischen Original erschien das Buch bereits 2022 – und damit ein Jahr vor dem oscarprämierten Überraschungserfolg „Poor Things“ von Giorgos Lanthimos. Auch hier spielt ein Mädchen, das zur Frau reift, die Hauptrolle; sie ist anfänglich getrieben von Neugier und später sexuellem Hunger, der schon bald für allerlei Irritation, nicht nur bei einer männlichen Leserschaft sorgen könnte. Faldbakken, der mit seinem Debüt „The Cocka Hola Company“ schnell auch außerhalb Skandinaviens für Aufsehen sorgte und seither auch als bildender Künstler Weltruhm erlangte, erzählt hier in seinem ureigenen, zuletzt in Werken wie „The Hills“ und „Wir sind fünf“ manifestierten Stil eine Variante der Kaspar-Hauser-Geschichte, angesiedelt zwischen archaischem Landleben und den verführerischen Verheißungen des Stadtlebens und der feinen Gesellschaft. Ein Bauernknecht findet ein verwildertes Mädchen im Wald, nimmt es mit auf den Hof, dort wächst es in rasender Geschwindigkeit zur Frau und Geliebten heran. Nach einem Zwischenfall muss das junge Paar fliehen und steuert mit Hilfe eines exzentrischen Lebemanns, der ebenfalls eine Verbindung zum Bauernhof hat, unter den Lichtern der Großstadt auf eine Katastrophe zu … Faldbakken ist hier ein, zum Teil auch recht amüsanter, Gruselroman im Gewand eines Volksmärchens gelungen, der geschickt auch durch Lautmalerei mit den Gefühlen der Lesenden spielt.
Rainer Germann
Hape Kerkeling – Gebt mir etwas Zeit. Mein Chronik der Ereignisse (Piper)
Hape Kerkeling ist ein Komiker-König: Ob als Hannilein, als Königin Beatrix oder als Horst Schlämmer. Fürs neue Buch „Gebt mir etwas Zeit“ schickte er „Spucke nach Texas“, wie er bei „Inas Nacht“ erzählte. Das Ergebnis: Im Erbgut ist viel Holländisches, Slawisches, Italienisches und Englisches. Sogar „blaues Blut“ fließt in seinen Adern, König Edward VII. soll mit Kerkelings Urgroßmutter Agnes Sattler eine Liaison gehabt haben, aus der Oma Bertha hervorging. Theoretisch rangiert „Prinz Hape“ auf Platz 111 in der britischen Thronfolge, ist mit König Charles III. verwandt. In 29 Kapiteln folgt Kerkeling seinen niederländischen Wurzeln bis ins 12. Jahrhundert. Wir treffen auf Cornelis Kerkeling, der in Amsterdam ein Hutgeschäft betreibt, laut Hape ein getarntes Bordell. Vom Seefahrer über den Großhändler bis zum Sadisten ist beim Familienpuzzle alles dabei. Zum Glück bedient der 368-seitige Schmöker nicht nur Ahnenforscher-Nerds, sondern enthält schön anschaulich erzählte Episoden aus Kerkelings Vita. Als Sechsjähriger besucht er mit den Eltern Amsterdam und will dort bleiben. Als Jüngling verliebt er sich im Venedig des Nordens in Duncan, der an Aids erkrankt und stirbt. Auf wundersame Weise hat sich Hape nicht infiziert. Charismatisch-humorvoll lässt er uns an Stationen seines Lebens teilhaben – wir leiden, lachen, lieben mit ihm. Der Mensch Hape ist uns nach der Lektüre wieder ein Stück.
Wolfgang Scheidt
Lea Ruckpaul – Bye Bye Lolita (Roland & Quist)
Endlich raus aus der Opferrolle und die eigene Geschichte selbst erzählen. Auch wenn es verdammt weh tut. In ihrem großartigen Romandebüt wagt die Schauspielerin Lea Ruckpaul einen Perspektivenwechsel und schreibt die Geschichte eines der berühmtesten Romane der Weltliteratur neu: Vladimir Nabokovs »Lolita« von 1955, erzählt von Lolita selbst. Nicht aus der Perspektive des vierzigjährigen Mannes, dem die sogenannte Nymphette vermeintlich zum Verhängnis wurde. Nicht aus der Perspektive der Rezensenten, die Lolita erst zu einem Begriff gemacht haben, sie als gefährlich und provokant, als niedlich oder lüstern darstellten und damit ein Klischee geschaffen haben, aus welchem sich junge Frauen bis heute befreien müssen. Dolores Haze/Lolita blickt mit Ende dreißig zurück auf ihr beschädigtes Leben, beschwört die Erinnerungen mit Hilfe des Notizbuches herauf, in das ihr Peiniger Humbert Humbert seine Begegnungen mit der damals Zwölfjährigen eintrug. Ganz nah am Original gibt Lea Ruckpaul Dolores eine eigene Stimme. Mal verunsichert, verzweifelt, mal wild und wütend. Sie spricht aus, was Humbert Humbert nur andeutet, verklärt und verharmlost. Wie er sich bei ihrer Mutter eingenistet hat, diese heiratet, nur um dem Kind nahe zu sein. Wie er das Mädchen nach dem Tod der Mutter verschleppt und Tag für Tag vergewaltig. Wie er seine Einsamkeit und Abhängigkeit ausnutzt, ein System von Kontrolle und Gewalt errichtet und damit lange durchkommt. »Ich will keine Zuwendung und ich will keine Wiedergutmachung. Ich will Autonomie.« sagt Dolores und holt sich endlich die Deutungshoheit über ihre Geschichte zurück. Längst überfällig, stark und unbedingt lesenswert! (Lesung am 8.11. im Residenztheater)
Alke Müller-Wendlandt