Nick Cave & The Bad Seeds treffen mit einer Konzertmesse mitten ins Herz in der ausverkauften Olympiahalle
Manche Jünger*innen standen bereits nachmittags vor der Halle. Ein junges Paar aus Salzburg verteidigte seinen Platz in der ersten Reihe seit 16.30 Uhr, erzählte es auf Nachfrage den Fotografen im Graben. Menschen von 20 bis 70 sieht man hier – jede Kirche der Welt würde sich über diesen regen Zulauf und Altersquerschnitt freuen. Nick Cave-Konzerte waren schon immer intensiv; der Autor hatte Mitte der 80er Jahre erstmals das Vergnügen, dabei zu sein – dreimal an einem Tag (Soundcheck, Konzert, Zusatzkonzert) beim Arbeiten in der Theaterfabrik in Unterföhring. Eine andere Geschichte.
Seitdem hat die Begeisterung für diesen australischen Geschichtenerzähler, der es wie kein anderer versteht Punk mit dunklem Blues und Literatur zu verknüpfen, nicht nachgelassen – im Gegenteil, in den letzten Jahren scheint es eher so, dass mit dem Alter immer tiefer in Caves Kosmos eingetaucht wird, auch wenn einem manchmal vor lauter religiösen Metaphern, philosophischer Weltanschauung und Popkulturzitaten fast schwindlig wird.
Vor rund zehn Jahren verwandelten sich die Konzerte, nach einigen eher schwächeren Platten („Nocturama“, „Abattoir Blues/The Lyre Of Orpheus“, „Dig, Lazarus, Dig!!!“), mit dem herausragenden Album „Push The Sky Away“ in regelrechte Messen; manifestiert im Publikumskontakt mit den händeringenden Fans/Jünger*innen in den ersten Reihen, die den Sänger wie einen amerikanischen Fernsehprediger berühren, fühlen, ja, vielleicht in sich aufnehmen wollen. So etwas kann schnell mal nach hinten losgehen, zumal das Schicksal kurz darauf der Familie Cave den 15jährigen Sohn und Zwillingsbruder raubte – doch der Sänger konnte glaubhaft überzeugen, dass auch er zur Verarbeitung der Trauer seine Fans braucht: Nähe, Verständnis, Hingabe.
Die folgenden, fast schon meditativen Werke „Skeleton Tree“ und „Ghosteen“ sowie diverse Filmscores, Solo- und Nebenprojekte könnten auch als fast schon manische Trauerarbeit verstanden werden – live wurden die Konzerte immer ekstatischer, die Bühnen immer größer. Nach einer Reise durch Amerika entstand das jüngste Werk „Wild God“, ein fast schon klassisches Album mit überwiegend eingängigen Songs, das durchaus als Werkschau gesehen werden kann und auch den Rahmen für diese Tour liefert, indem es fast vollständig dargeboten wird. Übrigens: Den irischen Support The Murder Capital sollte man sich merken; sie haben mit ihrem breit angelegten Post-Punk eine gute Figur gemacht und kamen dementsprechend an.
Flankiert von Musikdirektor, kongenialem Songwriting-Partner und Multiinstrumentalisten Warren Ellis sowie Georg Vjestica (Gitarre), Colin Greenwood (Bass), Larry Mullins (Schlagzeug), Jim Sclavunos (Percussion), Carly Paradis (Keyboard) und einem vierköpfigen Gospelchor, stürmte Nick Cave im grauen Anzug und Krawatte wortwörtlich auf die Bühne. Nach einem kurzen Intro am Mikroständer und einer Begrüßung auf Deutsch folgte bereits in der Mitte des Openers „Frogs“ der erste Ausfall auf den quer vor der Bühne angelegten schmalen Laufsteg zum Fan-Kontakt.
Ein kurzes Intermezzo am Piano zu „Wild God“, der eingängige Titelsong, baute sich bald im Zusammenspiel des hervorragend eingespielten Ensembles zu einem „Wall Of Sound“ auf, dem wir an diesem Abend in dramaturgisch perfekt in Szene gesetzten Höhepunkten öfters begegnen durften. Beim berührenden „O Children“ glänzte zum ersten Mal der fantastische Chor um Leadstimme Janet Rasmus, und gespannt wartete die Menge bei „Jubilee Street“, dem ersten Höhepunkt dieses Abends, mantramäßig die Zeilen skandierend, auf den eruptiven Einsatz der ganzen Band: „I’m transforming, I’m vibrating… look at me now!“, Oh ja: Gänsehaut.
Weiter geht’s mit einer spannend instrumentierten Version von „From Her To Eternity“ vom ersten Album (1983), bevor Cave am Piano erklärt, warum das Publikum die aktuelle Single „Long Dark Night“ schon bald lieben wird. Darf man sagen, dass der, zugegeben, düster-schönen Ballade nach mehrfachem Hören auch live ein bisschen musikalischer Tiefgang in Sachen Harmonien und Phrasierung fehlt? Da man beides, in dieser Form, schon zigmal vom Meister gehört hat? Macht nichts, wird ebenfalls ein Klassiker – großer Applaus.
„Cinnamon Horses“ steigert sich mit Hilfe des Chors wieder zur Predigt, purer Gospel, und klar, muss jetzt auch mit dem Elvis gewidmeten „Tupelo“ Rückschau in die Vergangenheit gehalten werden – in die Welt des Euchrid Eucrow, von Nick Cave in seinem ersten Roman „Und die Eselin sah den Engel“ im tiefsten Süden der USA angesiedelt. „And the black rain come down. Water, water everywhere. Where no bird can fly, no fish can swim.“ – Die Band schraubt sich mit dunkelstem Goth-Rockabilly-Rock zurück in die Berliner Kellerclubs, und wieder: An Intention ist das schwer zu überbieten.
Beim solo am Piano dargebotenen „I Need You“ scheint der Sänger mit der Schlusszeile „Just breathe …“ wieder versöhnt mit der Welt – ein Liebeslied, klein und doch so groß. „Carnage“ vom gleichnamigen, leider etwas wenig beachteten Cave/Ellis-Duo-Album, bekommt hier vibrierend instrumentiert die Bühne, die es verdient, bevor es mit den u.a. aus TV- und Indiedisco bekannten Fan-Klassikern „Red Right Hand“ und „The Mercy Seat“ sowie dem ebenfalls vom „Carnage“-Album stammenden „White Elephant“ noch einmal in voller Montur mit bravouröser Band- und Chor-Performance Richtung Zugaben geht.
Stellungswechsel in die Arena, strahlende Augen rundum, auch wenn keine Engel in Sicht waren. Die rumpelnde Einschlafgeschichte „Papa Won’t Leave You, Henry“ lädt zum Tanz, bevor Cave mit einem formidablen „Weeping Song“ noch einmal zum Mitsingen einlädt und das Publikum anschließend mit dem versöhnlichen „Into My Arms“ in die Nacht entlässt.
Punk, Junkie, Prediger, Dandy, Schmerzensmann – dass Nick Cave in seiner rund 40-jährigen Karriere ohne sich zu verbiegen, Moden, Trends und wahrscheinlich höchst lukrativen Angeboten hinterherzulaufen seinen ganz eigenen Weg gegangen ist, ist das eine. Dass der Sänger mit der intensivsten Liveperformance, die man seit Jahren zu sehen bekommt, das Publikum mitten ins Herz trifft, das andere. Into my arms – gerne. Immer wieder.