Bühnenschau: Schicksalsstoffe

Start in die Spielzeit: DIE LEGENDE VOM HEILIGEN TRINKER am Teamtheater, SIE KAM AUS MARIUPOL und MIA SAN MIA an den Kammerspielen

Der Mann wusste, wovon er schrieb: Joseph Roth (1894 – 1939) war schwerer Alkoholiker, finanziell am Ende, er stirbt im Armenspital in Paris. Sein letztes Werk, die Erzählung Die Legende von heiligen Trinker, ist also sowohl Leidensvermächtnis als auch eine letzte Suche nach Hoffnung eines Abhängigen. Das Teamtheater gräbt weiterhin erfolgreich die zu Unrecht vergessenen Literaten aus: letztes Jahr Oskar Maria Graf mit „Verbrennt mich!”, ein von Georg Büttel hinreißend inszeniertes Biopic, und jetzt, mit dem gleichen Regisseur, Joseph Roth, jüdischer Journalist und Schriftsteller, aus Galizien stammend und ewig auf der Suche nach Heimat.

Ein paar große Bauklötze, ein bisschen Video und eine Wand, in der sich nach und nach Flaschen sammeln: das reicht, um die anrührend-wunderliche Tour – von den Pariser Brücken bis ins Grand Hotel – eines Clochards zu bebildern. Der eigentlich nur die Schuld aus der Spende eines Unbekannten begleichen will: in einer Kapelle bei der Hl. Therese von Lisieux. Doch immer hält ihn was ab: Kneipe, Tanzlokal, Kino, die Frauen.

Anna Knott, Joni-Beth Brownlee und Johannes Schön schaffen es im schnellen Wandel glaubhaft durch zig Rollen: vom leichten Mädchen bis zur Heiligen, vom Taxifahrer zum Ex-Fußballer. Otto Beckmann in der Hauptrolle ist ein bisschen Hans im Glück, aber auch erschreckend realistischer Säufer, der seiner Sucht nicht auskommt. Chansons, Geräusche-Loops, am Ende eine berührende Tom-Waits-Nummer (aus „You’re innocent when you dream” wird „when you drink”) – Georg Büttel zeigt einmal mehr, wie man mit wenigen Mitteln großartiges Theater macht: mit Panto- mime, Puppenspiel und Psychologie. Der Beifall nach knapp zwei Stunden: euphorisch.

Sie kam aus Mariupol (c) Kammerspiele/Maurice Korbel

„Auf nach Woanders!” ist das Motto für die neue Spielzeit an den Kammerspielen, und in Sie kam aus Mariupol liegt dieses Woanders in der Ukraine. Hier hat die Schriftstellerin Natascha Wodin ihre Wurzeln, in ihrem preis- gekrönten Text begibt sie sich auf Spurensuche: die 1945 in Fürth geborene Tochter einer ukrainischen NS-Zwangsarbeiterin recherchiert die Geschichte ihrer Mutter Jewgenia.

Spielfläche im Schauspielhaus ist die Vorderbühne: ein Schreibtisch, eine transparente Hausecke, die höllenrot leuchtet, wenn das Kind Natascha in die Hölle Schule geht. Familienfotos, Kriegsbilder, Schriften verdeutlichen Umstände, Zusammenhänge. Biografisches Schicksal im Kontext sowjetischer, ukrainischer und deutscher Geschichte: nach und nach rückt der ukrainische Regisseur Stas Zhyrkov die Entdeckungen von Wodin an uns heran, formt sie zu emotionalen Sequenzen und Momenten. Der Erzählduktus der Vorlage bleibt, die aktuelle Situation in der Ukraine scheint selten durch: der Soldat, der das Haus der Familie ausräumt, trägt Kampfmontur von heute. Die Zeitebenen verschieben sich häufig, Natascha, von Johanna Eiworth zu manieriert angelegt, und Natascha als Kind sind zugleich auf der Bühne. Konstantin Schumann hilft im Internet, ist Vater und Großvater und auch Pianist Die Mutter: Michaela Steigers Jewgenia ist schwierig, verletzlich, wankelmütig. „Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe”, das ist der Satz, hinter dem sie sich versteckt (und der Nataschas Recherche antreibt). Sie will ins Wasser, und würde problemlos die Kinder mitnehmen.

Das Freilegen dieser Familiengeschichte hält ein paar Überraschungen parat: irritierende, ein Verwandter ist Mörder, aber auch komische: ein Onkel war Opernsänger, köstlich parodiert das Annika Neugart. Der als Kind-Natascha auch der bewegende Höhepunkt gehört: die Erzählung vom Tod der Mutter. Großer Applaus nach zwei Stunden, trotz eines nicht unerheblichen Mankos: Masse und Tempo an historischem und familiärem Input lassen einen mehr als einmal den Überblick verlieren.

Mia san Mia (c) Kammerspiele/Matthias Horn

Gleiches Haus, ein Tag vorher: Spielzeiteröffnung mit Mia san mia, ein wohl lustig gemeinter Versuch, sich an bayerischen Traditionen zu reiben. Maibaum, Häusl mit Lüftlmalerei, Wiesn-Suff: alles im Programm auf dem fernen Planeten, der einer schrägen Familie von Rest-Bayern als Zuflucht dient. Irgendwie geht’s hier um Aufenthaltskontrolle und Touristen auf Herkunftsforschung, das tolle Ensemble (u.a. Wiebke Puls, Bernardo Arias Porras, Elias Krischke, Walter Hess) stakst gekonnt herum, eine kahlköpfige Gruselpuppentruppe, alpine Rennanzüge tragen sie zu Dirndl und Stoff-Lederhose: knalliger Trachten-Betrug. Was auch immer die Autoren Marco Layera (auch Regie) und Martín Valdés-Stauber sich gedacht haben für ihre „bayerische Space-Odyssey”: diese neurotische Familienaufstellung ist nur ein banales Spiel mit Äußerlichkeiten, bisschen skurril, bisschen grotesk, aber zu tieferer, gar erhellender Satire reicht es nie. Niemandem wird hier ernsthaft an die Haxn gepinkelt, der bayerische Löwe dürfte sich nicht mal kratzen. Am Ende: keine Proteste, dafür viel Beifall. Für einen argen Krampf.