In ihrem neuesten Roman Demon Copperhead zieht Barbara Kingsolver in über 800 Seiten Parallelen zum Werk des viktorianischen Sozialpoeten
Barbara Kingsolver – Demon Copperhead (dtv)
„Clean werden ist nicht wie krank sein, sondern als würde man einen Kranken pflegen“, erklärt Demon nach fast drei Jahren Therapieprogramm, fast am Ende dieses über 800 Seiten starken Romans, der nicht nur vom Titel her an „David Copperfield“ angelehnt ist. „Als hätten die Coen-Brüder Dickens verfilmt“, wird The Times auf dem Klappentext zitiert und tatsächlich, die Pulitzer- und Faulkner Award-Preisträgerin Barbara Kingslover trifft sprachlich und thematisch den Ton des sarkastischen britischen Sozialpoeten und der bildgewaltigen Regisseure, denen es wie wenigen gelingt, humorvoll den Finger in die Wunde namens Amerika zu bohren. Sie erzählt eine ähnliche Geschichte wie die des britischen Waisenjungen in der Person des Demon Copperhead als eine White-Trash-Saga, angesiedelt in den 90er/00er Jahren in Lee County, Virginia – die drogenabhängige Mutter früh verstorben, wächst er bei wechselnden Pflegefamilien zwischen Armut, Hunger und Kinderarbeit auf; erlebt als Jugendlicher einen kurzen Höhenflug als gefeierter Highschool-Footballstar und stürzt nach einer Verletzung kopfüber in die Drogensucht, nachdem ihm, wie Millionen Amerikanern, als Einstieg das Medikament Oxytocin als Schmerzmittel von skrupellosen Ärzten verschrieben wurde. Erst nachdem seine Drug Buddies wie die Fliegen sterben, schafft es der talentierte Comiczeichner aus dem Teufelskreis mit Hilfe von Therapie und Ortswechsel auszubrechen. Kingslover gelingt es sprachlich versiert (Übersetzung: Dirk van Gusteren) mit viel Empathie ihre zerrütteten, verletzten aber liebevoll skizzierten Protagonisten dem Lesenden nahe zu bringen – ohne mit Kritik am US-Fürsorgesystem und den Ursachen der Opioidkrise zu sparen. Trotz Länge(n) – absolut lesenswert.
Rainer Germann
Alex Capus – Das kleine Haus am Sonnenhang (Hanser)
Ein Sehnsuchtsbuch, das sich im Sommer noch sehnsüchtiger liest. Vielschreiber Alex Capus erzählt vom kleinen Freiheitstraum, den nicht nur die Toskana-Fraktion und die vielen Nördlichste-Stadt-Italiens-Wiederkäuer Münchens bestens kennen. Es ist der Traum, sich doch auch mal eine bescheidene Ferienimmobilie in Italien zuzulegen, allerdings nicht zum schnöden Schnellmal-über-den-Brenner-Urlauben, sondern um den Menschen vor Ort zu beweisen, was für coole Lebenskünstler-Socken doch auch in den Nordleuten stecken. Erzählt wird also vom kleinen Glück im kleinen, alten Steinhaus, das doch immer wieder überschattet wird von Unannehmlichkeiten – seien es die Siebenschläfer auf dem Dachboden, deren Anwesenheit eben nicht nur putzig, sondern nervenaufreibend ist. Seien es die lieben Mit-Dorfbewohner, die zwar immer freundlich grüßen und gerne mal auf ein Stamperl und ein Schwätzchen vorbeischauen – aber plötzlich wurde dann eben doch eingebrochen. Was die leicht verdauliche lange Kurzgeschichte dann aber doch besonders macht, ist der eigentliche Kern der Erzählung, der ums Erzählen selbst und den Wunsch, ein Schriftsteller zu sein, kreist. Capus spielt immer neue Szenarien durch, was sich auf engstem Raum ereignen könnte und wie man das schildern kann. Was Spaß macht: Es ist eine angenehm unaufgeregte Selbstbespiegelung. Und was man lernt, ist Gelassenheit. Salute!
Rupert Sommer
Rachel Cusk – Parade (Suhrkamp / Aus dem Englischen von Eva Bonné)
»Die Parade hat alles durcheinandergebracht.«, heißt es an einer Stelle in Rachel Cusks neuem Roman, der sich tatsächlich jeglicher Gewissheiten und Ordnungen entzieht. In einem Reigen wechselnder Erzählperspektiven kommen die großen Themen der englischen Autorin zur Sprache. Was ist die Rolle der Kunst? Welche Beziehung hat sie zur Wahrheit? Wie ist künstlerisches Schaffen mit Elternschaft vereinbar? Welche Geschlechterrollen prägen uns und wie finden Frauen in einer männlich geprägten Welt zu ihrer eigenen Wahrnehmung? Was macht die Verweigerung elterlicher Liebe mit Menschen und wie können sie sich von dieser Verletzung lösen? Eine namenlose Ich-Erzählerin, die Frau des Malers, der plötzlich verkehrt herum malt, wird auf offener Straße von einer Unbekannten attackiert, und muss sich nach dieser Gewalterfahrung neu sortieren. Sie liest die Biografie einer Malerin des späten 19. Jahrhunderts, die sich aus dem Schatten ihrer männlichen Zeitgenossen zu befreien versucht. Und besucht eine Ausstellung einer Künstlerin, die mit ihren hängenden Stofffiguren das Publikum verstört. Ein Filmemacher irritiert sein Publikum, weil er die wilde Uneindeutigkeit der Wirklichkeit nicht aufzulösen versucht, sondern noch verstärkt. In fragmentarischen Skizzen, werden in »Parade« die Biografien unterschiedlicher Kunstschaffender überblendet: Georg Baselitz, Paula Modersohn-Becker, Louise Bourgeois oder Éric Rohmer. Das klingt kompliziert? Mag sein. Doch vor allem beflügelt es in seiner Vielstimmigkeit wie ein Abendessen mit spannenden Menschen, an dem gegensätzliche Meinungen noch nebeneinander Platz haben. (Lesung am 13.9. im Literaturhaus)
Alke Müller-Wendlandt
Anna Katharina Fröhlich – Die Yacht (Friedenauer Presse)
Noch einmal dem Hochsommer nachtrauern. Mit all seinen Gerüchen, dem Geschmack nach gutem Essen und den Meersalzrändern auf der Haut. Es ist ein Buch, wie aus der Zeit gefallen. „Die Yacht“ erzählt von einer Engländerin mit dem schönen Shakespeare-Nachnamen Oberon, die nach Süditalien, in die unschwer als eine Art Ideal-Neapel erkennbare Stadt „N.“ gekommen ist, um dort einen Zeichenkurs zu belegen – natürlich aber um das Leben, die Sinnenfreude, das genaue Hinsehen und die Liebe zu lernen. Schon nach kurzer Zeit lernt sie den geheimnisvollen Dandy Salvatore Spinelli kennen, gleichzeitig exzentrisch wie bettelarm, der sie zu einer Reise noch weiter südlich – ins Herz der heißen Finsternis – verführt. Auf Sizilien docken die beiden im Haushalt der Tabarins an, deren Reichtum auch auf dunklen Machenschaften fußt. Egal: Am Pier liegt die titelgebende Yacht mit dem verheißungsvollen Namen „Devil’s Kiss“. Man muss viel entdecken. Noch sind die Tage lang, und die Nächte warm. Es wird schlüpfrig. Natürlich gibt es vieles, was man gegen Fröhlichs eigenwillig altbackene, alles andere als klischeefreie und barock überladene selbsternannte „Sommernovelle“ einwenden kann. Gleichzeitig liest sich das gute Stück so schnell weg, wie man einen angenehm arschkalten Sommerweißwein wegschlürft. Ein Vergnügen der sündigen Sorge. Was will man mehr?
Rupert Sommer