Mit Sir Simon Rattle hat das BR-Rundfunksymphonieorchester jetzt einen Dirigenten von Weltrang. Und einen humorbegabten, glühenden Fußballfan.
Sir Simon, man sieht, wie aufgeregt die Stadt und der BR ist: Gleich vor dem BR-Funkhaus wird man von einem großen Plakat begrüßt.
(lacht) Glauben Sie, es ist groß genug? Esa-Pekka Salonen, ein guter Dirigenten-Freund von mir, reiste mal nach Los Angeles. Und dort hatten sie ihm einfach nicht gesagt, was sie dort vorbereitet hatten: Plakate von ihm, eines nach dem anderen – auf einer Länge von 10 Kilometern!
Puh!
Und dabei ist er wirklich schüchtern. Er sagte damals zu mir: Man hat mich nicht vorgewarnt. Da sagte ich natürlich: Klar doch! Sonst hättest du ja nein gesagt.
Auf Ihren Plakaten hier in München steht: „Eine neue Ära beginnt“. Das klingt nicht nur ein bisschen wie ein neuer „Star Wars“-Film. Erhöht es nicht auch den Druck ganz schön?
Man geht hier so warmherzig mit mir um. Das Orchester war immer großzügig mit mir. Schon zu Zeiten von Mariss Jansons waren die Bande sehr eng. Wir haben dann immer wieder gesprochen und über mehrere Jahre hinweg vereinbart, in enger Verbindung zu bleiben. Ich hätte mich sehr auf eine Ära zusammen mit ihm gefreut, wenn er dann nicht so schnell so krank geworden und gestorben wäre. Spüre ich Druck? Natürlich!
Inwiefern?
Es geht mir darum, zu liefern und unsere Arbeit erfolgreich zu gestalten. Aber ich spüre jetzt schon: Orchester und Chor sind dazu bereit, alles zu probieren und zu wagen. Sie sind wirklich daran interessiert, unsere Arbeit zu einer echten Zusammenarbeit zu machen.
Orchester und Chor waren zuletzt ja vier Jahre lange ohne Chefdirigent. Was bedeutet das für die Rolle, die Sie jetzt einnehmen: Müssen Sie der große Motivator sein, damit alle wieder an einem Strang ziehen?
Ich denke, wir können nur durch unsere Arbeit zeigen, wozu wir zu leisten im Stande sind. Es ist doch fantastisch, dass wir jetzt regelmäßig und konsequent miteinander arbeiten können. Es ist ein großartiges Orchester. Aber es gibt so vieles, was man noch in allerlei Richtungen gemeinsam entwickeln kann – beim Repertoire, beim Stil, aber auch bei der Frage, wie sich das Orchester Bayern gegenüber öffnet und auf die Leute zugeht. Mir gefällt die Idee gut, dass wir stärker nach draußen treten. Und dass wir mehr Kontakte mit den Leuten schließen.
Sie scheuen sich nicht vor Nähe und Grenzüberschreitungen.
Warum auch? Wir wollen neue Wege einschlagen. Auf vielerlei Art: Etwa auch damit, dass wir innerhalb des Orchesters nach und nach ein Orchester für das Spielen auf historischen Instrumenten und für mehr Barock-Musik aufbauen. Auch das ist eine wichtige Reise. Alle Arten von Musik stammen doch aus dem gleichen Musik-Universum. Und wir müssen uns mit allen von ihnen befassen.
Sie sprachen davon, in München Teil einer Familie zu werden: Wie organisch und familiär ist eigentlich so eine große Organisation wie der BR als Rundfunkanstalt?
In einem großen Medienhaus zu arbeiten, kann schon eine Herausforderung sein. Es gibt viele unterschiedliche Themen, Spannungen und Ansprüche in solchen großen Häusern. Ein Orchester ist auch eine große Organisation. Aber dort kann man sehr schnell Verbindungen aufbauen – mit jedem einzelnen Mitglied. Auch wenn man nicht jeden wirklich persönlich kennt und schon gar nicht mit jedem befreundet sein kann: Durch die Art, wie wir zusammen Musik machen, erfährt man tiefgehende Dinge übereinander. Es kann zu sehr intensiven emotionalen Kontakten kommen – ohne dass wir von der Oberfläche her viel voneinander wissen. Der Weg läuft genau anders herum als ein Kennenlernen im sogenannten echten Leben.
Aber Sie wissen eben auch, wie Orchester ticken: Etwa, dass die besten Witze, in der Regel die Fagott-Spieler machen, oder nicht?
Auf jeden Fall die schmutzigsten!
Trotzdem: Sie kennen das Münchner Orchester schon gut, haben ja auch schon früher zusammengearbeitet. Wie gehen Sie jetzt aber vor?
Ich habe zu allen Orchestermusikern klar gesagt: Meine Tür ist immer offen! Wer reden möchte, soll gerne einfach reden – über alles. Wer Ideen hat: Bitte kommt! Es ist nicht so, dass unsere Zeitpläne nicht eng getaktet sind. Und natürlich ist es ein hochprofessionelles Orchester. Aber ein Orchester ist eben auch eine Gemeinschaft einzelner Musiker. Mein Job ist, es den Leuten so einfach wie möglich zu machen, ihr individuelles Talent genau auf den einen zentralen Punkt zu bringen.
Wenn Sie jetzt für den Bayerischen Rundfunk arbeiten: Haben Sie dann eigentlich ein eigenes Büro im Sender-Hochhaus?
Nein. Aber trotzdem ist bei mir die Tür immer offen. Und die Kaffeemaschine läuft ständig. Obwohl ich natürlich keine habe.
Verstehe.
(lacht) Ich bin genauso obdachlos wie wir alle vom Orchester.
Noch mal zum Eingewöhnen. Was macht man zuerst: Gemeinsamer Biergartenbesuch oder Ausfahrten?
Sie würden staunen, wie Tourneen funktionieren und was sie mit den Orchestern machen: Es gibt kein engeres Gemeinschaftserlebnis. Wenn wir erst mal zusammen „on the road“ sind, stellt sich gleich ein neuer Geist ein. Mehr gemeinsam erlebte Desaster, wie man bei mir zu Hause sagt.
Von außen betrachtet wirken die meisten Klassik-Musiker ja so diszipliniert. Und man denkt, dass sie fast nur am Üben sind. Bleibt da überhaupt noch Freiraum?
Glauben Sie etwa nicht, dass auch Rock-Bands viel Zeit beim Üben verbringen?
Würde jedenfalls nicht schaden.
Aber Sie haben schon recht: Wir müssen sehr diszipliniert sein – auf der Bühne. Aber nach der Aufführung: Da sind wir sicher nicht disziplinierter als andere.
Viele der neuen Programme, die Sie aktuell angekündigt haben – los geht’s ja auch gleich mit einem Auswärtstermin in Ottobeuren –, muss ja Arbeit sein, an der Sie schon länger zusammen mit dem Orchester gefeilt haben.
Diese Dinge brauchen immer sehr viel Zeit. Was das Programm angeht: Vieles davon folgt meinem Vergnügensprinzip. Ich wollte auch mal auswählen, was ich gerne von diesem Orchester hören möchte. Und was ich mit ihm entwickeln will. Dabei geht der Blick natürlich auch immer wieder zurück – etwa zu meinem großartigen Vorvorgänger Rafael Kubelík und der tschechischen Musik, die er spielte. Ich möchte mich aber auch um das französische Repertoire kümmern, das in München vom Symphonieorchester zuletzt eher weniger auf dem Spielplan stand. Es geht mir immer um die Frage: Wie kann ich diesem wunderschönen Vogel noch buntere Federn hinzufügen?
Und dann kommen Sie hierher und die Bayern überfallen Sie mit Ihrer Blasmusik-Tradition und einem „Hoagascht“-Konzertprojekt?
Die Blasmusik war meine Idee.
Echt jetzt?
Ich stamme ja selbst aus einer Brass-Band-Tradition.
Weit verbreitet in Nordengland.
Und nicht nur dort. Es gibt wahrscheinlich noch mehr Blas-Orchester in Großbritannien als hierzulande. Aber ich habe meine Hör-Hausaufgaben mit bayerischen Blasmusik-Bands gemacht – und die haben mir großen Respekt eingeflößt. Was für ein hohes Niveau! Ich freue mich so darauf, wenn wir uns alle beim „Hoagascht“ treffen. Ich liebe Projekte, die uns nach draußen bringen und bei denen man andere Menschen kennenlernt, um gemeinsam mit ihnen Musik zu machen. Das sieht mir ganz nach einem Schiff aus, das an sehr spannende Orte segeln wird.
Selbst wenn das unterwegs mit sich bringt, dass Sie eines Tages interessante bayerische Beinmode tragen werden?
(lacht) Ich weiß nicht, ob die Welt schon bereit ist, mich in Lederhosen zu sehen.
Das BRSO steht wegen der recht ungewissen Zukunftspläne rund um Konzerthausbauten und Konzerthaus-Renovierungsarbeiten in dieser Stadt vor einer nicht leichten Situation. Sie haben angekündigt, dass Sie künftig ein wenig hartnäckiger in diesem Punkt nachhaken wollen, wenn Sie ja immer öfter länger in der Stadt sind. Wie wollen Sie die Politiker immer wieder anstupsen und ihnen auf die Pelle rücken?
Wir müssen miteinander reden! Denn ganz offensichtlich gibt es eine Menge von Problemen, denen wir uns dringend widmen müssen. Daher ist es so wichtig für mich, dass wir das Thema Konzerthaus im Fokus behalten. Wenn ich meinen Job ernst nehme, muss ich diesbezüglich auch ein wenig unbequem sein.
Sehr löblich. Es kann ja nur eine Herzensangelegenheit sein, diese kniffligen Fragen kooperativ und konstruktiv zu lösen.
Das BR-Symphonieorchester ist das einzige Orchester von Weltrang, das dazu gezwungen ist, in seiner eigenen Heimatstadt auf Tournee zu gehen.
Merkwürdigerweise sehen ja viele Außenstehende München als unglaublich reiche Stadt an, die solche Fragen auch in schwierigen Zeiten lösen könnte.
Es ist eine reiche Region. Und hier unterstützt man die Künste mit großer Leidenschaft und Enthusiasmus.
Und trotzdem ist die Konzertsaalfrage so knifflig. Denken Sie, dass ein Weltklasse-Fußballverein wie der FC Bayern es ohne Stadion aushalten würde?
Wohl nicht.
Wie steht es eigentlich um Ihre Fußballherzen als Liverpool-Fan in der Stadt der Bayern?
Ich bleibe Liverpool-Fan. Selbst wenn Ihr einen unserer besten Spieler der jüngsten Zeit hier bei Bayern München habt.
Sadio Mané. Keine Bauchschmerzen mehr?
Ich freue mich sehr darauf, auch hier Fußballspiele zu sehen. Aber mein Herz wird immer bei Liverpool sein. Ich bin auch immer noch ehrfürchtig begeistert darüber, dass meine zwei Söhne ebenfalls Liverpool-Fans wurden. Ich habe sie wirklich nicht in diese Richtung gedrängt. Aber es geht ja vieles: Ich habe einen britischen Pass, aber neuerdings habe ich auch einen deutschen. Meine Kinder haben auch beide. Moderne Welt!
Und ihre deutschen Sprachkenntnisse laufen jetzt Gefahr, durch derbes Bairisch eingefärbt zu werden?
(lacht) Ich bin mir sicher, dass mir bislang noch niemand deutsche Sprachkenntnisse unterstellt hat! Mein heute 18-Jähriger hatte schon als Fünfjähriger zu mir gesagt: Dad, wenn du Deutsch sprichst, wirkst du immer so selbstsicher dabei. Aber niemand außer dir versteht, was du da sagst.
Interview: Rupert Sommer