Sina Haghiri – Mit Nachsicht (Kösel)
Es haben sich ja schon etliche schlaue Menschen damit beschäftigt, warum der Mensch so ist, wie er ist. Angefangen bei Yuval Noah Harari, der mit seiner „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ so etwas ähnliches wie die Bibel für Aufgeklärte geschrieben hat. Aber auch Philosophen wie Michael Schmidt-Salomon thematisieren in ihren Schriften knifflige Themen wie „Die Grenzen der Toleranz“ und/oder nur schwer zu verstehende Phänomene wie etwa die „Schwarmdummheit“ (in „Keine Macht den Doofen“). Und dann wäre da auch noch Rutger Bregman, der sich der Menschheit in „Im Grunde gut“ dahingehend nähert, dass es oft gar nicht so schlimm ist, wie es dargestellt wird, z.B. in den Medien. So kamen also bisher hauptsächlich Historiker, Philosophen, Soziologen (Harald Welzer, Andreas Reckwitz u.a.) zu Wort, Zeit also, mit Sina Haghiri, auch mal einen Psychologen zu lesen. Er stellt mit seinem ebenso geistreichen wie unterhaltsamen Sachbuch „Mit Nachsicht“ die These auf, dass man mit Empathie nicht nur sich selbst sondern vielleicht sogar die ganze Welt verändern kann. Aber auch Haghiri weiß, dass das menschliche Belohnungssystem im Gehirn am meisten dann anspricht, wenn auch für einen selber ein gewisser Mehrwert entsteht, also fragt er im vielleicht zentralsten Kapitel: „What’s in it for me?“ Die Antworten sind denkbar einfach: Geben (wenn man es hat) macht glücklicher als nehmen, freundlich und nett sein – denn es kommt zurück und, Nachsicht uns selbst und anderen gegenüber stärkt unsere eigene psychische und physische Gesundheit. Wer’s glaubt, wird unter großer Wahrscheinlichkeit um einiges nachsichtig(er) werden. Das einzig dumme an diesen herausragenden Büchern ist allerdings, dass es meistens sowieso nur diejenigen lesen, die es eh schon wissen …
Gerald Huber
Claus Melchior und Thomas Bohlender – 57, 58, 59, Sechzig! 125 Jahre Fußball TSV 1860 München (Die Werkstatt)
Schon als Junge kickte ich im weiß-blauen Dress, mein Bruder im Bayern-Trikot. Barbara, Tochter von Ex-Präsident Dr. Erich Riedl, verschenkte in der Schule Löwen-Tickets. Im Sechzger-Stadion jubelte ich, ausgerechnet im Bayern-T-Shirt, über Charly Herberths Tor gegen Bielefeld und über ein 6:1 in der Bayernliga gegen Fürth. Im Olympiastadion litt ich, als Francis Kioyo den Elfer gegen Hertha verschoss; legendär das Relegations-Wunder gegen Kiel in der Allianz Arena. Alle Titel, Tore, Triumphe, Tränen und Tragödien in der 125-jährigen Löwen-Kicker-Historie lassen Claus Melchior und Thomas Bohlender im reich bebilderten, 256-seitigen Prachtband zum Jubiläum Revue passieren. Wechselnde Spielstätten, Insolvenzen, Geldnöte, Größenwahn und die Fehde Investor versus Mutterverein lähmen Münchens große Liebe bis heute, Meister- wie Pokalsiege und der Durchmarsch von der Bayernliga in die Bundesliga sind lange her. Umso schöner, in Zeitraffer Pionierjahre, goldene Sechziger, Auf- und Abstiege, magische Bayernligazeiten und Legenden wie Rudi Brunnenmeier oder Karsten Wettberg, nur in der Unterhose beim Interview, zu feiern und vom Neuanfang auf Giesings Höhen zu träumen. Eine Ode an alle Münchner Fußballfans, blau wie rot. Aufgepasst, liebe Bayern: Ohne Sechzig keine Allianz Arena, kein Wiggerl Kögl, kein Jens Jeremies, kein Julian Nagelsmann und Kaiser Franz wäre, ohne Watschn, auch ein Blauer geworden. Ein Buch wie Balsam fürs geschundene Löwenherz und mehr als ein Liebesschwur: Einmal Löwe, immer Löwe.
Wolfgang Scheidt
Eric de Kuyper – An der See (Wagenbach)
Sommerferien in Ostende. Jedes Jahr. Mit Mutter, Oma, Tante, Onkel, Schwester, Cousins, Cousinen – immer alle zusammen, im selben Haus. Jeden Tag an den Strand. Spiele am und im Wasser. Die Kinners. Die Erwachsenen. Neu erfundene und ungeschriebene Gesetze. Feste Rituale en famille. Anziehen, Ausziehen, Umziehen. Eis-Essen. Tränen. Pflichten. Kleine Fluchten. Eine Kindheit in den 1950er Jahren. Gerüche, Geräusche, belauschte Gespräche, Empfindungen. Erinnerungen ans Sehen und Gesehenwerden. Frühes Begehren und Verlangen – guilty pleasures avant la lettre. Der Text: Ein Bedürfnis, ein lustvolles Spiel, mit 45, mal strukturalistisch getönte Familienaufstellung à la Claude Lévi-Strauss, mal Essay mit phänomenologischer Leidenschaft. Das augenzwinkernde Motto: „Reale Nichtigkeiten. Sigmund Freud.“ Der hatte, mit Blick auf Leonardo, notiert: „Die Phantasien der Menschen über ihre Kindheit lehnen sich in der Regel an kleine Wirklichkeiten dieser sonst vergessenen Vorzeit an. Es bedarf darum doch eines geheimen Motivs, um die reale Nichtigkeit hervorzuholen …“. Eric de Kuyper, Semiotiker, Filmtheoretiker, Autor, Regisseur … mit spannender Vita, reichem Werk. Das hier: nur eins von den tollen, lebensklugen Büchern, die Gerd Busse bitte bald alle für uns ins Deutsche übersetzt.
Hermann Barth
Lisa-Marie Hallberg – „Bruckmandls böse Buben“ (Wolfstein)
Mörderische After-Work- Ausschweifungen in der gar nicht so braven Bischofsstadt: Im bitterbösen Sex- und Drogen-Krimi stoßen zwei Kommissare aus Regensburg die gut abgeschirmten Türen zu den Hinterzimmern der Macht auf. Auslöser für ihre Ermittlungen ist ein Junkie, der ausgerechnet im Hof einer von Security-Kameras eigentlich bestens ausgeleuchteten Nobelbank aufgefunden wird. Nächstes Rätsel: Auch aus dem Safe fehlt eine hohe Geldsumme. Und bei dem einen Toten bleibt es nicht – natürlich nicht. Lisa-Marie Hallberg tischt mit ihrem Krimidebüt solides Lesefutter aus, das sich den üblichen Regionalkrimi-Folkloreklischees verweigert. Dabei leuchtet sie ins Rotlicht-Milieu an der Donau und spießt die Verlogenheiten der nur vermeintlich besseren Kreise auf. Das Strippenziehen, genaue Hinsehen und schnelle Urteilen hat Hallberg, die in München lebt und ihren Roman wie so viele während nervenaufreibend ereignisarmer Corona-Tage geschrieben hat, schon früh gelernt – in einer anderen, deutlich harmloseren Form von Insiderwelt. Sie engagierte sich lange für das StuSta-Culum-Kulturfestival in der Studentenstadt Freimann und steckte mit hinter dem originellen Förderpreis „Goldene Weißwurscht“. Eine Münchner Schule, die fürs Leben prägt.
Rupert Sommer
Isaac Rosa – Ein sicherer Ort (Liebeskind)
Nein, in einer alternativen Gemeinschaftssiedlung der „Tonkrügler“ könnte sich Segismundo Garcia seine Ex-Frau Mónica nicht vorstellen – zu verwöhnt, zu sehr fixiert auf das Geld, dass er zusammen mit seinem Vater, ebenfalls Segismundo, mit dubiosen Zahnkliniken verdienen wollte. Daraus wurde nichts, der Vater landete gar im Gefängnis, doch Garcia hat schon die nächste Idee: Minibunker zum Einbau in Keller-Garten-Garage – ein „sicherer Ort“ in Anbetracht der prekären Weltlage, wo nicht jeder an Slogans wie „Tonkrüge gegen den Klimawandel“ glaubt und Gefahr nicht nur durch die nächste „heiße Woche“ droht. Doch dafür braucht er Geld, und das hätte sein inzwischen dementer Vater irgendwo versteckt vor Haftantritt – und so macht sich Segismundo II. zusammen mit Pflegerin Yuliana und seinem ebenfalls in dunkle Geschäfte verwickelte Sohn Segis auf, dem mittlerweile entlassenen Alten zu folgen, als dieser verwirrt durch die Gegend streift, in der Hoffnung, dass er das Trio direkt zur Anschubfinanzierung führt … Dem spanischen Bestsellerautor Isaac Rosa ist mit diesem hinreißend erzählten Verfolgungsroman eine bissige Gesellschaftssatire gelungen, irgendwo angesiedelt im Übermorgen und das ist wörtlich zu nehmen. Was bleibt? Ein Schluck aus dem Tonkrug, ein schönes Lächeln für jedermann.
Rainer Germann