John Niven – O Brother (btb)
„Komm schon Shades. Ist gut jetzt. Zeit zu gehen, kleiner Mann“. Mit nur 42 Jahren stirbt Gary Niven, genannt Shades, der zwei Jahre jüngere Bruder des Autors. In seinem neuesten Buch erzählt der schottische Schriftsteller seine eigene Lebensgeschichte verknüpft mit der seiner Familie und vor allem dem tragischen Werdegangs seines Bruders, der 2010 Selbstmord beging. Es sind die Selbstzweifel die sich wie ein blutroter Faden durch das Werk ziehen, das es wie wenige Bücher schafft, den Lesenden zum Lachen zu bringen und gleichzeitig zu Tränen zu rühren. Hätte er, spätestens als erfolgreicher A&R bei Plattenfirmen und danach als Erfolgsautor, mehr für den auf die schiefe Bahn und ins Gefängnis geratenen, seit Kindesbeinen jähzornigen, später drogen- und alkoholabhängigen Bruder tun können? Ihn besser, auch finanziell, unterstützen sollen? Auch, wenn er sich meist wie ein Arschloch verhalten hat? Schonungslos und höchst einfühlsam zeichnet Niven mit dem detaillierten Psychogramm einer schottischen Familie das Bild eines europäischen Mittelstandes mit all seinen Abgründen und Höhenflügen. Dieses Buch macht sprachlos und gehört zweifelsohne zu den besten Memoiren, die in den letzten Jahren erschienen sind. Und es ist wohl auch John Nivens vielleicht bestes Buch bisher. Must read.
Rainer Germann
Martina Bogdahn – Mühlensommer (Kiepenheuer & Witsch)
Maria erlebte eine grotesk beschwerliche, entbehrungsreiche Kindheit auf dem Land. Und über diese denkt die längst in der Stadt sozialisierte Mutter von zwei halbwüchsigen Töchtern nach, als sie auf den Hof zurückkehrt, da ihr Vater schwer verunglückte und die Mutter sie bat, sich um die Tiere und die demente Oma zu kümmern. Vor allem die Tierepisoden haben es in sich: Eine Muttersau wirft Ferkel, eines jedoch bleibt tot im Mutterleib zurück. Klarer Fall, dass da jemand Hand anlegen, besser die seine bis weit über den Ellenbogen hinaus einführen muss. Brutal auch die Schlachtszene an die sich die Titelheldin aus ihrer Kinderzeit erinnert. Ein Gemetzel sondergleichen, und wer schon immer Mal mit dem Gedanken spielte, sich vegan oder vegetarisch zu ernähren: bitte schön! Aber da ist dann auch noch der Bruder, der Maria ihr Erbe streitig machen will. Fertig ist ein Familiendrama, das vom Verlag in guter alter Ludwig-Thoma-meets-Rosamunde-Pilcher-Tradition als „warmherzig und humorvoll“ verkauft wird. Nun, beides stimmt, irgendwie, dann und wann. In erster Linie aber merkt man schon die Zerrissenheit der beteiligten Personen, die zwischenmenschlichen Defizite, Wut, Enttäuschungen, Verletzungen, aber ja, auch die Liebe, nicht nur zum Brotbacken… Martina Bogdahn ist mit „Mühlensommer“ eine detailgetreue Milieustudie geglückt, in der einmal mehr deutlich wird, warum Landbevölkerung und Menschen aus der Stadt nur bedingt kompatibel sind.
Gerald Huber
Gaea Schoeters – Trophäe (Zsolnay)
Es ist der Kick des Risikos, der den Investmentbanker Hunter White antreibt. Das gilt gleichermaßen für seinen Job, als auch für seine Leidenschaft: die Großwildjagd. Für viel Geld hat er die ersehnte Jagdlizenz erworben und will nun in Afrika die „Big Five“ vollmachen. Ein vom Aussterben bedrohtes Spitzmaulnashorn soll seine Sammlung komplettieren. Eine weitere Trophäe als Geschenk für seine Frau, ein primitiver Beweis seiner Männlichkeit. Vor Ort wurde die Jagd akribisch vorbereitet, die Vorfreude auf das Abenteuer ist groß, und doch kommen Wilderer Hunter zuvor und die Trophäe ist dahin. Als Wiedergutmachung steht nun das unerhörte Angebot im Raum, einen Menschen zu jagen. Wird Hunter White die Jagd fortsetzen? Der flämischen Autorin Gaea Schoeters ist ein dichtes und hochspannendes Meisterstück gelungen, eine Parabel über Macht und Ausbeutung und die ungeheuerliche Natur des Menschen. Sie stellt einen durch und durch unangenehmen Charakter in den Mittelpunkt dieser atemlosen und auch verstörenden Geschichte, die man einfach nicht aus der Hand legen kann. Und liefert zugleich einen klugen Kommentar zur überheblichen Sicht des Westens (nicht nur) auf den afrikanischen Kontinent. Ganz bewusst und virtuos spielt Schoeters mit dem kolonialen Genre des Abenteuerromans à la Hemingway, nur um dann den Kollaps genau dieser vermeintlichen moralischen Überlegenheit zu zeigen. Ganz große Literatur! (Lesung am 17.4. im Literaturhaus)
Alke Müller-Wendlandt
Timon Karl Kaleyta – Heilung (Piper)
Was passiert, wenn „Der Zauberberg“ auf „The Shining“ trifft und dann noch was ganz anderes Gruseliges passiert? Wer das Gefühl hat, der hoffentlich zurückliegende Winter hätte uns mal wieder um den klirrenden Kälterausch gebracht, der muss nur im weit oben in den Dolomiten abgelegenen „San Vita“ einchecken. Das ist ein tief eingeschneites Nobel-Krankenhaus, das sich mit tollen Wellness-Anwendungen tarnt, in denen aber ein undurchsichtiger Professor Trinkl seinen Patienten ganz tief in die Seele und auf die wegversteckten Traumata blicken möchte. So geht es auch dem Ich-Erzähler, der unter schweren Schlafstörungen samt einer fortschreitenden Persönlichkeitskrise leidet und der in der eisigen Abseitswelt eigentlich geheilt werden sollte. Doch kann man Trinkl trauen? Und was geschieht wirklich, wenn man der leicht gesagten, schwer umzusetzenden Devise einfach mal folgt: Du musst dein Leben ändern! Timon Karl Kaleyta spielt auch in seinem zweiten Roman mit dem sehr berechtigten Unbehagen daran, Vergangenes nicht mehr Vergangenheit sein zu lassen. So geht es im zweiten Teil auch zurück zu einem verloren geglaubten Kindheitsfreund, dem man besser weiterhin aus dem Weg gegangen wäre. Eiskalt servierter Psycho-Trunk. Herrlich scharf und gefährlich.
Rupert Sommer